Die Agenda frisst die Kinder

Mit den rot-grünen Reformen wird die Kinderarmut wieder zunehmen, meint der Kinderschutzbund. von jan süselbeck

Für den Präsidenten des Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, ist der Fall klar: »Die Kinder sind die Hauptopfer dieser Politik.« Die für Anfang des Jahres 2005 geplante Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe werde den Anteil der Kinder, die in Deutschland unter Sozialhilfebedingungen aufwachsen, stark ansteigen lassen. Wenn die Reform Hartz IV verwirklicht werde, wachse die Zahl dieser Kinder voraussichtlich um rund eine halbe Million auf 1,5 Millionen an, errechneten der Kinderschutzbund, das Kinderhilfswerk und der Paritätische Wohlfahrtsverband.

»Das bedeutet, dass in sozialen Brennpunkten, wie wir sie beispielsweise in bestimmten Stadtteilen Berlins finden, die Mehrheit der Kinder in Armut leben wird«, sagte Hilgers der Jungle World.

Renate Schmidt (SPD), die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, verbreitete dagegen im August 2003 Optimismus. Sie betonte, die Agenda 2010 beinhalte notwendige sozialpolitische Änderungen, die auch für die Familien große Vorteile brächten. »Mit einer Familienpolitik, die auch bevölkerungsbewusst ist, wollen wir gute Rahmenbedingungen schaffen, damit die Entscheidung für Kinder leicht fällt.«

Mit einem Kinderzuschlag von maximal 140 Euro für Geringverdienende, der ab 1. Juli 2004 ausgezahlt und höchstens für drei Jahre gewährt werden soll, will Schmidt die Situation von Familien verbessern. »Mit dem Kinderzuschlag werden wir Kinderarmut in einem ersten Schritt bekämpfen«, sagte sie, »wir werden rund 150 000 Kinder und deren Familien aus dem Bezug von Arbeitslosengeld II herausholen.«

Hilgers sieht das jedoch etwas anders. »Schmidts Reformen werden die Entwicklung abmildern, aber das Problem nicht aus der Welt schaffen.« Er schätzt, dass die betroffenen Familien ab 2005 durchschnittlich mit 20 bis 30 Prozent weniger Geld auskommen müssen und die Zahl der Kinder, die von Sozialhilfe leben müssen, »bestenfalls nur auf 1,38 Millionen« steigen werde. »Hinzu kommt, dass die Regierung ihre Berechnungen nicht offenlegt. Detailkritik wird damit unmöglich gemacht.«

Es sei »welt- und lebensfremd zu glauben, ohne die bisher üblichen Sonderbeihilfen seien arme Familien künftig in der Lage, mit den in Aussicht gestellten 140 Euro ›eigenverantwortlich‹ für den Unterhalt eines Kinds zu sorgen«. Die vergleichsweise teure Anschaffung eines neuen Winteranoraks etwa, die früher auf Antrag vom Sozialamt finanziert wurde, werde mit der neuen 140-Euro-Regelung unmöglich gemacht. »Wir vom Kinderschutzbund werden wieder massiv Mittagstische und Kleiderläden organisieren müssen. Das ist ein Rückschritt in die fünfziger Jahre«, kritisiert Hilgers.

Nicht zuletzt sei die Behauptung der Bundesregierung falsch, dass ein wirtschaftlicher Aufschwung das Problem beseitige. Das Prinzip der Entwicklung werde nicht begriffen. »Man beklagt, es würden zu wenig Kinder geboren, und da, wo es fast ausschließlich noch passiert, nämlich in den armen Familien, nimmt man die Unterstützung weg.«

Tatsache ist, dass die rot-grünen Sozialkürzungen die hilflosesten Teile der Gesellschaft besonders hart treffen. Bereits heute wüchsen nach Informationen des Kinderschutzbundes etwa drei Millionen Kinder in Deutschland unter prekären finanziellen Bedingungen auf. Nach wissenschaftlicher Definition gilt hierzulande derjenige als arm, dessen Einkünfte 50 Prozent unter dem durchschnittlichen Einkommen liegen. Demnach lebt jedes fünfte Kind bzw. jeder fünfte Jugendliche im Alter bis 15 Jahre in Deutschland in relativer Armut.

Die Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge und Michael Klundt weisen in ihrem Aufsatz »Kinderarmut und Generationengerechtigkeit« darauf hin, dass unter armen Kindern eine zweimal höhere Mortalitätsrate durch Unfälle herrsche. Die postnatale Sterblichkeit sei bei dieser Gruppe deutlich höher. Sie wiesen eine sehr viel höhere Anfälligkeit für akute und chronische Erkrankungen auf als Kinder besser gestellter Familien. Hinzu kämen Sprachauffälligkeiten, Sprachstörungen, Koordinationsstörungen und Übergewicht. Vor allem: Kinder, die in Armut aufwachsen, würden früh sozial ausgegrenzt. Dies führe schon im jungen Alter zu Gewalterfahrungen. Die Wahrscheinlichkeit, einen Realschulabschluss zu erreichen, sei für ein armes Kind um 19 Prozent geringer, beim Abitur sogar um 52 Prozent.

Im Vergleich zum Trikont in Deutschland von Kinderarmut zu sprechen, mag unpassend erscheinen. Gerade dieser Hinweis wird jedoch auch von neoliberalen Wortführern gerne benutzt, um den Sozialabbau zu verharmlosen. So hält es der Dortmunder Wirtschaftswissenschaftler Walter Krämer für »hochgradig pervers, in einer Zeit, in der weltweit 18 Millionen Menschen jährlich verhungern, einen deutschen Halbstarken nur deshalb arm zu nennen, weil er anders als seine Klassenkameraden keine Diesel-Lederjacke oder Nike-Turnschuhe besitzt«.

In seinem Buch »Armut in der Bundesrepublik. Zur Theorie und Praxis eines überforderten Begriffs« kommt Krämer zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass es in Deutschland gar keine Armut gebe, sondern nur eine »Jammerlobby der deutschen Presse«. Hier verhungere niemand, die Sozialhilfe reiche vollkommen aus, und »angeblich Arme« kauften sich Pornohefte. Man solle doch bedenken, dass auch Reiche manchmal arm dran seien. Und wer Schulden mache, trage ohnehin selbst die Schuld. Krämer glaubt, dass in 100 Jahren »alle Armen mit Rolls-Royce zum Golfplatz fahren«.

Die Kinderarmut in Deutschland eigne sich laut Butterwegge und Klundt wegen ihres hochgradig emotionalisierenden Nachrichtenwerts für konservative Meinungsführer bestens dazu, die Opfer der Kürzungsmaßnahmen im sozialen Bereich gegeneinander auszuspielen. Talkshowgäste wie Hans-Olaf Henkel, der ehemalige Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), oder Finanzminister Hans Eichel (SPD) führten ständig die »Verantwortung für unsere Kinder« im Munde, um weitere Kürzungen zu rechtfertigen.

Nicht etwa die Sozialreformen, die die Situation der Kinder nachweislich verschärften, sondern Singles, Kinderlose und Greise würden auf diesem Weg plötzlich für die Armut vieler kinderreicher Familien verantwortlich gemacht. So werde es möglich, ausgerechnet die wachsende Armut als Legitimationsgrundlage für weitere Sozial- und Rentenkürzungen zu nutzen.