Viva für Loser

Am kommenden Freitag findet in Berlin unter dem traumatischen Titel »Germany 12 Points« die deutsche Vorausscheidung zum Song Contest in Istanbul statt. von heinz erdmann

Max, der 22 Jahre junge Abiturient mit den wenigen Haaren, stinkt. Sagt er selbst über sich. Doch den Zusehern von »TV-Total« war das egal. Sie wählten ihn zum Gewinner des Stefan-Raab-Castingmarathons, wo junge Anti-Talente aus allen Teilen der Republik versammelt wurden, um einem von ihnen die Möglichkeit zu geben, bei der am Freitag stattfindenden deutschen Song-Contest-Vorausscheidung blamiert zu werden.

Max ist, das steht jetzt schon fest, mit der Hormonhymne »Can’t wait until tonight« der klare Favorit des kollektiven »Ich will eine Reise nach Istanbul gewinnen«-Events. Aber leider ist Max (Nachname Mutzke) die falsche Wahl. Denn wenn Max den Refrain »Can’t wait until tonight« dahinröhrt, denkt man spontan an massiven Harndrang, ganz sicher aber nicht an erotische Abenteuer. Um die Text-Interpreten-Schere zu schließen, hätte eher Alex, die Turboblondine aus Olpe, das Casting gewinnen müssen.

Aber gut, jetzt ist es nun mal passiert, und Max Mutzke, die röhrende Stirnglatze aus dem südlichen Schwarzwald, wird die Vorausscheidung in Berlin aller Voraussicht nach gewinnen. Nicht nur, weil Max der angestrebten Verjüngungskur in Sachen deutscher Song-Contest-Teilnehmer voll und ganz entspricht, auch sein Popularitätswert wurde durch wochenlange »TV-Total«-Präsenz in die Köpfe der Fernsehkonsumenten geschraubt. »Ein deutscher Hit soll ein europäischer Hit werden«, wünscht sich Jürgen Meier-Beer, der Song-Contest-Verantwortliche des NDR. Weil das mit sabbernd-schnulzenden Interpreten wie Guildo Horn oder Corinna May (»I Can’t Live Without Music« – scheinbar doch!) unmöglich ist, holte Meier-Beer den deutschen Musiksender Viva mit ins Boot, änderte das Reglement und verlegte die Vorausscheidung kurzerhand von Kiel nach Berlin. Am kommenden Sonnabend werden uns also nur jene Interpreten etwas vorsingen dürfen, die bereits über einen Plattenvertrag, ein abgedrehtes Video und einen Astralleib verfügen. Kein Wunder, dass uns bei derartigen Auswahlkriterien altbekannte Gesichter mehr oder weniger Neubekanntes präsentieren werden. Die Konkurrenz ist vernichtend. Neben der Becker-Ex und »I drink and drive«-Soulstimme Sabrina Setlur (»Love«) singen Deutschlands Schmuddelpopper Laith Al-Deen (»Höher«) und Oli P’s ehemalige Backgroundkehle Tina Frank (»Ich schenk dir mein Herz«) um die Stimmen der Deutschen. Franks musikalischen Beitrag wird man wohl auch nach dem bereits programmierten Ausscheiden der Münchnerin zu hören bekommen. Immerhin hat es »Ich schenk dir mein Herz« zum Titellied des im April startenden Zeichentrickfilms »Derrick – die Pflicht ruft« geschafft.

Um eine Verjüngung nicht nur der Interpreten, sondern auch des Publikums sicherzustellen, setzt man uns kommenden Freitag die Sieger der Casting-Show »Popstars – Das Duell« auf die Mattscheibe. Overground (»Der letzte Stern«) werden wie gewohnt die ihnen verordnete Zielgruppe der 9- bis 14-Jährigen mit ihren bekloppt anmutenden Tanzeinlagen in Rage versetzen. (»Die Jungs sind eben richtige Heartbreaker. Jeder von ihnen spricht einen anderen Typen an. Ihnen werden die Frauen zu Füßen liegen«, wusste ja schon der »Popstar«-Juror Uwe Fahrenkrog-Peterson.) Auf mädchenstimmenmindernde Konkurrenz können sich Overground durch Mitstreiter Patrick Nuo (»Undone«) gefasst machen. Während Akay, Marq, Meiko und Ken – die Jungs von Overground – das vorprogrammierte Ablaufdatum ihrer Burschencombo noch vor sich haben, hat Patrick Nuo, einst Sänger und Songwriter der Boygroup »Bed & Breakfast«, schon längst den Sprung in die heiß ersehnte Solokarriere (ebenfalls mit Ablaufdatum, schließlich werden die Kids ja auch älter) geschafft. Ob es mit der triefenden Poprockballade »Undone« für das internationale Wettsingen am Bosporus tatsächlich reicht, ist fraglich. Aber nicht nur in Deutschland wurde der Modus des Events geändert. Auch in Istanbul ist diesmal alles anders. Insgesamt 36 Länder sind nominiert, von denen 14 bereits fix für das Finale qualifiziert sind. Der Rest ringt in einem Halbfinale um den Finaleinzug. Deutschland ist trotz des Vorjahresdebakels von Lou (»Let’s get happy«) als einer der größten Beitragszahler bereits mit von der Partie. Eines kann jedoch jetzt schon gesagt werden: Das Techno-Duo Scooter wird die Blaue Moschee höchstens im Fernsehen zu Gesicht bekommen. Für ihren Beitrag »Jigga Jigga« haben die Hamburger wieder mal einzig den Titel des Songs geändert. Den ultimativen Ist-ja-viel-zu-laut-Effekt wird uns WestBam (»Dancing with the Rebels«) mit einem Elektro-House-Musik-Track besorgen. Neben dem in die Jahre gekommenen Duo Scooter ist DJ und Münsteraner Maximilian Lenz (38) übrigens erfolgreich durch die gewünschte Alterskontrolle geschlüpft.

Die letzte Chance sozusagen. Und weil das eben noch nicht genug ist, wird auch noch die Gruppe Mia (»Hungriges Herz«) einschließlich der schnurrenden Frontfrau Mieze mit ihrem verwaschenen Synthiepop- und Elektropunk-Gezerre des Sehers strapazierte Nerven überlasten. Der vermutlich letzte akustische Tiefschlag könnte dem geduldigen Konsumenten von Masha (»Right Here«) versetzt werden. Die Tochter des derzeit auf allen Privatsendern mit Bildschirmverbot belegten Showmasters Frank Elstner und der Schlagersängerin Marion Merz steht auf Reisen und sollte das auch gefälligst tun. Aber nicht nach Istanbul.

Moderiert wird das unappetitliche Schlagergemixe von Jörg Pilawa, der auch frisurentechnisch in würdiger Nachfolge des Erich Honecker der Boulevardsendungen, Axel Bulthaupt, steht. Für die nötige Portion an Weiblichkeit sorgt übrigens – und das ist ein erneuter Beweis für die Vivaisierung der ehrwürdigen Veranstaltung – die erst 24jährige Viva-Moderatorin Sarah Kuttner, deren Moderationen beim musikalischen Piepmatz-Sender Viva einem rhetorischen Minenfeld gleichen. Es wird also ein flotter Abend, der da in Berlin steigt, ein Abend, an dem wir endlich komprimiert in zwei Stunden all die Loser der Musikbranche sehen, die wir bei Viva bald nicht mehr sehen werden.