Agenda nonstop

Die Agenda 2010 war eine Erfolgsgeschichte, und nun hat Gerhard Schröder sie neu aufgelegt. In seiner Regierungserklärung drohte der Kanzler mit weiteren Reformen. von thomas blum

Es ist schön, wenn alle Beteiligten sich einig sind. Die Oppositionsführerin ist sich einig mit dem Bundeskanzler, der Bundeskanzler ist sich einig mit sich selbst und »vor allem sind die eigenen Abgeordneten zufrieden mit ihrem Kanzler. 71 Mal haben sie ihn mit ihrem Beifall unterbrochen.« (Berliner Zeitung) Was aber wiederum auch kein Wunder ist, denn dafür werden sie schließlich bezahlt. Und so herrscht ungebrochenes Einvernehmen im deutschen Bundestag, der deutschen Demokratiesimulationsanstalt.

Einig ist man sich vor allem darüber, dass der etappenweise vorgenommene Abbau des Sozialstaats, nach sozialdemokratischer Sprachregelung »Reformen« genannt, notwendig und eine ganz und gar vortreffliche Sache ist.

In seiner Regierungserklärung, die Bundeskanzler Gerhard Schröder am vorigen Donnerstag abgab, ein Jahr nach seiner Ankündigung der so genannten Agenda 2010, versuchte er zweierlei. Einerseits ging es ihm wohl darum, sich beim Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) darum zu bewerben, weiter Bundeskanzler bleiben zu dürfen, andererseits schien es ihm offenbar an der Zeit, die Reformen noch einmal zu »vermitteln«, das heißt: das groß angelegte Sozialabbauprogramm seiner Regierung erneut so umzulügen, dass der Eindruck entsteht, es handle sich dabei um ein politisches Jahrhundertwerk, das die Menschen glücklich macht.

Dass seine Rede mit dem bezeichnenden Titel »Egoismus überwinden, Gemeinsinn fördern: Unser Weg zu neuer Stärke« teilweise aus dem üblichen Euphemismensalat und hohl tönendem Wortbimbam bestand, ist nicht erstaunlich, doch bedeuten die Begriffe, die er bemüht, mehr, als sie scheinen: Innovation, Wachstum, Modernisierung, Umbau, Verantwortung, Zukunft, Zuversicht, Mut, Erneuerung.

Innovation und Wachstum bedeuten, dass die Gewinne der Unternehmer auch künftig nicht gefährdet sein werden. Umbau und Modernisierung bedeutet, dass Leistungen gestrichen und Renten gekürzt werden. Verantwortung bedeutet, dass man bald alles selbst bezahlen muss. Zukunft und Zuversicht sind eingestreute Leerformeln, die Zwangsoptimismus verbreiten sollen.

Der mit der Agenda 2010 eingeleitete Abbau des Sozialsystems wird als »mutige« Veränderung etikettiert, wobei »Mut« stets als Chiffre gebraucht wird. »Mut« hat die Regierung, die sich der Sozialpolitik entledigt zum Zweck der »Erneuerung Deutschlands«, das heißt der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit seiner Unternehmer im internationalen Kapitalismus. Gerhard Schröder sagt das so: »Wir haben uns zum Ziel gesetzt, den Sozialstaat umzubauen und Deutschland zurück an die Weltspitze zu führen.« Wem das nicht gefällt, wer sich traut auszusprechen, dass er mit dem einen oder anderen nicht ganz einverstanden ist, der ist »Schwarzmaler« bzw. »Blockierer«, oder er ist »Egoist«.

»Egoisten«, so muss man es wohl verstehen, sind vor allem Arbeitslose und Menschen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind. Sie sind es, die altbackenen Ideen von sozialer Gerechtigkeit anhängen, »den Sozialstaat alter Prägung um jeden Preis verteidigen wollen«, nur an sich selbst denken und die rücksichtslos und uneinsichtig ihr freches Einzelinteresse an Nahrung und Obdach durchsetzen wollen.

Ihnen muss laut Schröder erklärt werden, dass die Zeit, »in der immer mehr an immer mehr Menschen verteilt wird, vorüber ist«. Jeder muss selbst sehen, wo er bleibt, auf staatliche Hilfe soll sich keiner verlassen, »jeder einzelne steht in der Verantwortung«.

Selbst Ottmar Schreiner, dem letzten linken Sozialdemokraten, sollte mit dieser Rede eingebläut werden, dass die einzige Chance der SPD, an der Regierung zu bleiben, nach wie vor darin besteht, die Politik der künftigen Kanzlerin der CDU vorwegzunehmen.

Dafür, dass er ihre Politik schon heute recht gekonnt macht, erhielt Schröder von der Vorsitzenden der CDU, Angela Merkel, ein dickes Lob. Zwar findet sie, dass seine Partei den Umbau des Sozialsystems noch etwas zu zaghaft betreibe, und beklagt im verabredeten Sprachcode »fehlenden Mut«, doch der »erste richtige Schritt« sei mit der Agenda 2010 getan. Im Grunde habe Schröder nur noch nicht ganz kapiert, dass es schneller vorangehen müsse, wenn Deutschland im internationalen Sozialabbauwettbewerb mithalten wolle. »Es muss weitergehen.«

Rundum einverstanden mit der Politik der großen Koalition aus SPD, Grünen, CDU, FDP und BDI und voll des Lobes für den Kanzler, dessen »Auftritt gelungen« (Financial Times Deutschland) und dessen Regierungserklärung »selbstbewusst, inhaltlich geschlossen und sehr sicher im Ton« (Die Welt) gewesen sei, ist im Großen und Ganzen auch die deutsche Presse. Was die Politik der Bundesregierung »soll und sein will, mag so manchem anhand dieser Erläuterungen erstmals aufgehen«, frohlockt das Zentralorgan der SPD, die Frankfurter Rundschau, und auch die Kollegen von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sind guter Dinge, weil der Kanzler seinen Job auch nicht schlechter macht als einer von der CDU: »Im Bundestag hat Schröder jetzt noch einmal versichert, er werde den Kurs halten. Das ist angesichts seiner schwierigen Lage nicht gering zu schätzen.«

Auch die taz will bei so viel Eintracht nicht abseits stehen und freut sich erwartungsvoll darüber, dass Deutschlands Aufbruch zu neuer Stärke weitergeht: »Die Agenda 2010, so richtig sie in ihrem Grundansatz ist, hat viele Versprechen (noch) nicht eingelöst.«

Kurz: Alle finden, dass der Kanzler im Grunde seine Sache ganz gut macht. Anfangs habe er zwar aus mangelnder Einsicht mit den »Reformen« gezögert und es nicht geschafft, der eigenen Klientel das spezifisch Sozialdemokratische am Sozialabbau zu erklären. Nun aber läuft alles rund. Die Frage ist nur, »ob er die Kraft zum dringend nötigen nächsten Schritt hat« (Die Welt) oder ob man für diesen erst wieder die CDU in der Regierung installieren muss.

Der einzige Nörgler und unverbesserliche Widerständler, der die schöne Harmonie der Parteien stört und mit den anderen wieder nicht einig ist, ist der Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt, der ungeduldig auf die dringend nötigen nächsten Schritte wartet. Denn auf seinem Wunschzettel, mit dem er täglich durch die Medien tingelt, steht viel mehr als bloß die Demontage des Sozialen und die Abschaffung von Arbeitnehmerrechten: »Ich hätte mir vom Bundeskanzler mehr Mut zu wesentlich weiter gehenden Reformen gewünscht.« Auch »die großen deutschen Wirtschaftsverbände zeigten sich enttäuscht« von Schröders Rede, erklärt uns das Handelsblatt, denn leider habe der Kanzler »keine weiteren konkreten Arbeitsmarkt- und Sozialreformen angekündigt«, wie zum Beispiel die Abschaffung der Sozialhilfe oder die Einführung der Prügelstrafe für Arbeitsverweigerer.

Denn das bei weitem Schlimmste, was in Deutschland passieren könnte, ist, dass das deutsche Kapital »die Wachstumsperspektiven nach unten korrigieren müsste«. Und das will ja nun keiner. Deshalb steht fest: »Die Systeme der sozialen Sicherung« gelten dem Handelsblatt auch künftig »als reformbedürftig. Bisherige Reformen wirken zwar kostendämpfend, Strukturen wurden aber nicht wirklich aufgebrochen.«

Vielleicht sollte tatsächlich demnächst die CDU die Regierung übernehmen, um die Strukturen des lästigen Sozialstaats alter Prägung so richtig aufzubrechen. Vielleicht klappt’s dann auch wieder mit der deutschen Wirtschaft. Bis es aber so weit ist, wärmt Schröder noch ein Weilchen die Regierungsbank vor. Wie sagte er so treffend in seiner Regierungserklärung? »Wir sind noch längst nicht am Ende unseres Weges.«