Hamas schwört Rache

Die Tötung von Hamas-Chef Yassin steht in Zusammenhang mit dem angekündigten Rückzug der israelischen Armee aus dem Gazastreifen. von andré anchuelo

Nach der Tötung von Sheik Ahmed Yassin durch die israelische Luftwaffe Anfang vergangener Woche war man sich fast auf der ganzen Welt einig: Von der britischen bis zur saudischen Regierung, von der Europäischen Union bis zur UN-Menschenrechtskommission, von amnesty international bis zur Deutsch-Israelischen Gesellschaft hieß es unisono, das Vorgehen der israelischen Regierung unter Ministerpräsident Ariel Sharon lasse die Gewalt eskalieren, sei nicht gerechtfertigt und verletze internationales Recht.

Zumindest mit dem ersten Punkt allerdings kam man den Reaktionen der Hamas-Führung erstaunlich nahe. In ihrem ersten Kommuniqué hieß es, Sharon habe mit Yassins Tötung »alle Tore zur Hölle geöffnet«; damit sollte Israel die Schuld für neue Terroranschläge der Hamas gegeben werden.

Doch erst eine Woche zuvor bewies die Hamas mit ihrem doppelten Selbstmordanschlag in der israelischen Hafenstadt Ashdod, dass sie ohnehin zuschlägt, wann immer es ihr möglich ist. Bei dem Bombenattentat wurden zehn Israelis getötet. Einige Sicherheitsexperten vermuten aber, dass eigentlich ein so genannter Mega-Anschlag beabsichtigt war. Durch eine Explosion von Chemikalien-Tanks im Hafen von Ashdod hätten demnach mehrere hundert israelische Zivilisten getötet werden sollen.

Kurz danach beschloss das israelische Sicherheitskabinett, auch die politische Führung der Hamas erneut ins Visier zu nehmen. Bereits im letzten Jahr waren Ahmed Yassin und sein Stellvertreter Abdel Aziz Rantisi nur knapp zwei israelischen Attacken entkommen. Beide waren die politisch Verantwortlichen für den Tod mehrerer hundert Israelis seit Beginn der »al-Aqsa-Intifada«. Lange vor dem September 2000 allerdings, noch während der Phase des »Friedensprozesses«, hatten sie das Mittel des Selbstmordanschlages auf israelische Zivilisten eingeführt. Sowohl Yassin als auch der zuweilen als radikaler eingestufte Rantisi waren 1988 Gründungsmitglieder der Hamas. Beide haben die damals veröffentlichte Charta der Organisation unterstützt, wenn nicht sogar selbst verfasst.

Gemäß des Manifests ist es Ziel der Hamas, die »Befreiung« ganz »Palästinas« durch den »Jihad« zu erreichen. Israel werde so lange existieren, »bis der Islam es ausgelöscht hat«, danach werde man »das Banner Allahs über jedem Zentimeter Palästinas entfalten«. Yassin persönlich konstatierte damals in einem Interview, es werde »keinen Frieden« geben, solange es einen »zionistisch-jüdischen Staat« gibt. »Unser heiliges Ziel ist es, ganz Palästina zu befreien, und wenn die Juden nicht gehen, werden sie sterben. Ganz Palästina ist islamisches Land – jeder Zoll«, so Yassin weiter.

Ob eine Trennung der Hamas in einen gemäßigten und einen radikaleren Flügel Sinn ergibt, ist umstritten. 1998 argumentierte Yassin selbst dagegen. Man könne den »Flügel« nicht vom »Körper« trennen, tatsächlich sei die Hamas ein einziger Körper, so Yassin. Immer wieder rief er öffentlich zu Anschlägen auf Juden auf. Zuletzt, im Januar 2004, rechtfertigte er auch die Entsendung von Frauen zu Selbstmordattentaten.

Angesichts dessen, dass die Anschläge von Ashdod tatsächlich nur das letzte Glied in einer langen Kette blutigen Terrors bilden, stellt sich aber auch die Frage, warum die israelische Regierung Yassin ausgerechnet jetzt töten ließ. Die Antwort dürfte in dem angekündigten Rückzug der israelischen Armee aus dem Gazastreifen zu finden sein. Zwei Überlegungen werden dabei immer wieder genannt.

Zum einen will die israelische Regierung möglicherweise verhindern, dass nach dem Abzug aus Gaza die Hamas dort die Macht übernimmt. Dafür spricht, dass Israel in Verhandlungen mit der ägyptischen und der jordanischen Regierung und mit dem UN-Generalsekretariat steht, um diese zu veranlassen, ein Machtvakuum zu verhindern. Dies könnte durch eine Verstärkung ägyptischer Truppen an der Grenze zum Gazastreifen geschehen oder auch durch die Entsendung von UN-Truppen. Doch das erste wäre nicht wirklich effektiv, das zweite kaum im israelischen Interesse.

Die einzige potenzielle Ordnungsmacht jenseits der Hamas wäre Yassir Arafats Palästinensische Autonomiebehörde (PA) mit ihren Sicherheitskräften. Doch genauso wie ihre Basis, Arafats Fatah-Bewegung mit ihren al-Aqsa-Brigaden, sieht sich die PA mit Korruptionsvorwürfen und Zerfallserscheinungen konfrontiert (vgl. Jungle World, 13/2004). Zudem scheinen sich insbesondere Teile der al-Aqsa-Brigaden der Hamas immer mehr anzunähern.

Nicht nur, dass die Anschläge von Ashdod eine Gemeinschaftsproduktion der Hamas und der al-Aqsa-Brigaden waren, nach einem Bericht der israelischen Zeitung Ha’aretz sind inzwischen mindestens zwei von zehn Zellen der Brigaden im Gazastreifen faktisch zur Hamas übergelaufen. In einer solchen Situation mit Yassin das wichtigste Symbol der Hamas zu einem »Märtyrer« zu machen, scheint bei dem Vorhaben, die Hamas zu schwächen und ihre Konkurrenten in der PA und der Fatah zu stärken, nicht besonders klug zu sein. Folgerichtig wurde die Tötung Yassins auch aus israelischen Geheimdienst- und Sicherheitskreisen kritisiert.

Die israelische Armee hingegen rechtfertigte die Aktion. So prophezeite Generalstabschef Moshe Ya’alon, Yassins Tod könne zwar kurzfristig zu mehr Terroranschlägen in Israel führen, langfristig werde er jedoch die moderaten Elemente in der palästinensischen Gesellschaft stärken. Hintergrund für diese gewagte Prognose dürfte die Sorge in Armeekreisen sein, der Rückzug aus dem Gazastreifen könnte als Sieg der Hamas über die israelische Armee gedeutet werden. Tatsächlich hat die Hamas bereits kurz nach den entsprechenden Ankündigungen Sharons diese Analogie zum Libanon gezogen. Seit dem einseitigen israelischen Rückzug aus dem Südlibanon im Mai 2000 feiert sich die dortige islamistische Hizbollah als Bezwingerin Israels. Viele Palästinenser teilen diese Sicht.

Daraus könnte die zweite Überlegung der israelischen Regierung resultieren. Um nicht den Eindruck zu erwecken, man ziehe sich »unter Feuer« zurück, müsse man zunächst in die Offensive gehen, so das Argument. Doch auch hier stellt sich die Frage, ob dies letztlich nicht die Hamas stärkt.