»Unsere Feinde sind die Amerikaner«

Interview mit hamza türkmen, einem Vorstandsmitglied des einflussreichsten islamistischen Dachverbandes der Türkei, zur EU-Begeisterung der Islamisten

Seit dem Ende der neunziger Jahre, als das türkische Militär den islamistischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan zum Rücktritt zwang, hat sich in der islamistischen Szene der Türkei ein Paradigmenwechsel vollzogen. Früher klar gegen Europa eingestellt, begannen die Islamisten zu erkennen, dass die Rechtssicherheit in EU-Staaten mehr staatliche Toleranz verspricht, gerade auch bezüglich der Religionsausübung. Obwohl das Kopftuchverbot in Frankreich die Begeisterung etwas gedämpft hat, befürworten die meisten Islamisten in der Türkei inzwischen den Beitritt zur EU.

Im Interview erklärt der Islamist Hamza Türkmen, worin er Gemeinsamkeiten zwischen islamistischen und antiimperialistischen Bewegungen entdeckt und was sich türkische Islamisten von Europa erhoffen.

Türkmen ist Herausgeber der Zeitschrift Küdüs dergisi (Jerusalem-Zeitschrift) und Vorstandsmitglied von »Özgür-der« (Verband für Gedankenfreiheit und das Recht auf Bildung), dem einflussreichsten islamistischen Dachverband in der Türkei.

Woraus resultiert die plötzliche Europa-Begeisterung der islamischen Szene in der Türkei?

Die islamische Bewegung war beeindruckt von der ablehnenden Haltung der meisten Europäer gegen den großen Kreuzzug der USA nach dem 11. September. Der Feind sind heute die Amerikaner, während sich unsere Themen in vielen Bereichen denen der Anti-Globalisierungsbewegung annähern. Rachel Corrie zum Beispiel war eine Aktivistin, die in Palästina von israelischen Soldaten ermordet wurde, weil sie mit ihrem Körper das Haus eines Palästinensers vor dem Abriss schützen wollte. Sie ist für uns eine Schwester und Märtyrerin.

Ist das nicht sehr konstruiert? Ich glaube kaum, dass sie Märtyrerin sein wollte. Sie war eine Aktivistin der Friedensbewegung.

Für uns nicht. Es geht darum, die mit Globalisierungsgefasel und als Kampf gegen Terror getarnte Expansionspolitik der Amerikaner und Israelis zu bekämpfen. Das hat Corrie getan. Für uns sind diese beiden Staaten die größten Terroristen der Gegenwart. Und der einzige Weg dagegen vorzugehen, ist die Intifada.

Bei Selbstmordanschlägen auf ein Freimaurer-Lokal wurden in Istanbul kürzlich zwei Menschen getötet. Ist das ihr Verständnis von Widerstand?

Wir kämpfen mit der Schreibfeder und mit Agitation, nicht mit Gewalt. Diese Anschläge sind für uns eine Form der asymetrischen Kriegsführung im Stile Ussama bin Ladens, die der islamischen Sache sicher nicht dient. Außerdem sind sie nutzlos im Kampf gegen den Terror im großen Stil, den die USA betreiben. Die Opfer sind schuldlose Zivilisten, kein ernsthafter Muslim kann so etwas gutheißen. Wir sehen aber auch, dass der Hass auf den Westen, der Antiimperialismus, den wir alle unterstützen, manche in der Bewegung in Richtung Gewalt lenkt. In den legalen islamistischen Kreisen wird diese Form der Kriegsführung auch diskutiert. Wir denken, dass manche den Begriff des Heiligen Kriegs falsch interpretieren. Der Jihad-Begriff im Koran bedeutet für uns nicht Kampf, sondern die Weisung, die Sache des Islam in Schrift und Diskussion zu vertreten. Natürlich gibt es Gewalt und Gegengewalt, das ist in jedem Krieg so. In Palästina herrscht ein Straßenkrieg, den wir nicht verurteilen, denn die Menschen wehren sich gegen unterdrückerische Gewalt. Das bedeutet aber eben nicht Anschläge auf Zivilisten, wie es die Selbstmordattentäter machen. Man darf die Muslime nicht als homogene Fraktion betrachten. Der Krieg der Amerikaner hat zu einer Spaltung geführt zwischen denen, die Gewalt befürworten und denen, die sie ablehnen wie wir.

Wie beurteilen Sie denn die gegenwärtige türkische Regierung? Sind das für Sie Abtrünnige?

Diese Regierung ist sicherlich die vernünftigste, die wir bislang hatten, und viele Leute dort wollen das Beste für unser Land. Wir unterstützen auch die Kompromisse, die gemacht werden, etwa in der Zypern-Frage. Bestimmte Strukturen in der Türkei zwingen die Regierung aber, ihre Identität zu verleugnen, das betrübt uns. Die Regierungspartei bezeichnet sich inzwischen nicht mehr als islamische Partei. Der Nationale Sicherheitsrat und das Militär sind die wahren Herrscher und ihre Fibel ist der Kemalismus. Mustafa Kemal Atatürk hat zwar die Nation begründet, aber der seinen Namen tragende Kemalismus ist eine Unterdrückungsideologie. Das Kopftuchverbot bei uns gründet sich immer noch auf ein Gesetz, welches vorschreibt, »moderne Kleidung« zu tragen. Wo gibt es so etwas noch auf der Welt, und wer verfügt, was modern ist? Früher gab es einen starken Antagonismus zwischen linken und islamischen Gruppen in der Türkei. Diese Kluft ist fast verschwunden, weil wir gemerkt haben, dass unser gemeinsamer Feind der Kemalismus ist. Das Militär definiert danach, was modern ist. Die Frau des Ministerpräsidenten darf auf Empfängen in der Türkei nicht erscheinen, weil sie eine Kleidung trägt, die ihren Glauben repräsentiert. Was hat das denn mit Modernität zu tun?

Auch in Europa finden viele Leute, dass öffentliche Personen auf religiöse Symbole verzichten sollten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat gerade die Klage französischer Schülerinnen, an Schulen Kopftücher tragen zu dürfen, abgelehnt. Harünissa Gül, die Frau Ihres Außenministers, hat ihre Klage zurückgezogen. War das nicht ein weiser Entschluss, der Kompromissbereitschaft zeigt?

Harünissa Gül hat völlig zu Recht geklagt, dass Ihr das Recht auf Bildung verweigert wird, weil sie ein Kopftuch trägt. Sie hatte einen Studienplatz, den sie wegen ihrer Kleidung nicht wahrnehmen konnte. Wir verstehen nicht, was daran modern oder demokratisch ist. Das sieht auch Frau Gül so, sie hat die Klage zurückgezogen, weil das Thema in den Medien zum Politikum gemacht wurde und sie das wegen des Amtes ihres Mannes nicht wollte. Die Entscheidung bleibt ihr überlassen, ich fand sie nicht richtig.

Für viele Europäer widerspricht die islamische Verschleierung dem Gleichheitsgrundsatz.

Das ist eine Frage der Religion, die nicht ausgerechnet Nicht-Muslime für uns entscheiden sollten. So wenig wir es richtig finden, Druck auf Frauen auszuüben, die sich nicht verschleiern wollen, wie im Iran, so sehr lehnen wir auch ab, Frauen die Teilnahme am öffentlichen Leben zu verweigern, weil sie verschleiert sind. Ich glaube, das beruht auf den Vorurteilen des Westens, diese Kleidung als Merkmal des Fundamentalismus zu brandmarken bzw. die muslimische Kleidung als Benachteiligung der Frauen zu verachten. Welche Arroganz! In der Türkei existiert seit den achtziger Jahren eine Bewegung für das Kopftuch im öffentlichen Leben, die von Frauen getragen wird. Auch die Vorsitzende von Özgür-der ist eine Frau, eine Anwältin, die ihren Beruf nicht ausüben kann, weil sie ein Kopftuch trägt. Das ist nicht modern, und wir werden nicht aufhören zu versuchen, das den Europäern zu erklären. Zunächst sollte dieses Problem allerdings in der Türkei gelöst werden, und das ist ein Prozess, der wohl noch lange dauern wird.

interview: sabine küper-büsch