Minority Report

Am 1. Mai erweitert sich die EU um zehn neue Länder. Minderheiten in den Beitrittsstaaten hoffen auf verbesserten Schutz. Das Neue Europa Teil I. von oliver weiss, wien

Die 15jährige Olesja Lahtionowa aus Riga wird sich künftig in der Schule wohl verstärkt anstrengen müssen, um ihren Notendurchschnitt halten zu können. Verantwortlich dafür ist ein neues Gesetz, das in Estland im September dieses Jahres, wenige Monate nach dem Beitritt des Landes zur EU, in Kraft tritt. 60 Prozent des Unterrichts werden nun in lettischer Sprache abgehalten werden müssen. Bisher war Russisch die am meisten verwendete Sprache im Unterricht. »Ich verstehe nicht, wie ich Chemie oder Mathematik auf Lettisch lernen soll, wenn ich es manchmal kaum in meiner eigenen Sprache verstehe«, sagt Olesja.

Rund 42 Prozent der lettischen Bevölkerung sind Russen. Seit der Unabhängigkeit des Landes von der untergehenden Sowjetunion im Jahre 1991 vertieft sich die Spaltung in der lettischen Gesellschaft zusehends. Die russische Minderheit ist geeint in dem Gefühl, von der lettischen Regierung schikaniert zu werden. Wenn anderswo in Europa am 1. Mai die Erweiterung der Union auf 25 Mitglieder gefeiert werden wird, werden in Riga die Russen des Landes in einer Großdemonstration gegen die Schikanen demonstrieren. Sie haben dabei einen mächtigen Verbündeten: Moskau, das immer wieder versucht, auf die baltischen Republiken mit ihren zahlenmäßig starken russischen Minderheiten Druck auszuüben. Im Februar vergangenen Jahres stoppte Russland die Verschiffung seines Erdöls über den lettischen Ostseehafen Ventspils und versetzte damit der lettischen Volkswirtschaft einen schweren Schlag, denn sieben Prozent des lettischen Bruttosozialprodukts kommen aus den Öltransiteinnahmen. Was Moskau besonders stört, ist die Weigerung der lettischen Regierung, den Russen im Land automatisch die lettische Staatsbürgerschaft zu geben, was sie ab 1. Mai zu Nicht-EU-Bürgern macht.

Experten sehen die heikle Lage der Russen im Baltikum in einem geopolitischen Kontext. »Die Russen im Baltikum sind nicht die einzige Minderheit in den neuen EU-Staaten. Bei keiner anderen Minderheit in den Beitrittsländern kommt aber eine solche geopolitische Dimension dazu. Die baltischen Russen werden von Moskau beschützt, und die EU muss sich damit arrangieren«, analysiert Aaron Rhodes, Chef der International Helsinki Federation for Human Rights in Wien. Anders ausgedrückt: Estland, Lettland und Litauen haben sowohl aus Brüssel wie auch aus Moskau Druck zu erwarten, die Spannungen mit den russischen Minderheiten nicht eskalieren zu lassen, denn Brüssel braucht Moskau noch als strategischen Partner für die nächsten Erweiterungsrunden.

Weniger behütet fühlen sich andere Minderheiten in den zehn neuen EU-Staaten, zuvorderst natürlich die Roma. Sie können sich nicht auf die Anwaltschaft einer zumindest regionalen Großmacht wie Russland stützen. »Das Roma-Problem ist das schwer wiegendste Minderheitenproblem in der neuen EU, sie leben in einigen Staaten in grauenhaften Lebensumständen«, stellt Aaron Rhodes fest. Das gelte nicht allein für die Brennpunkte Tschechien, Ungarn und Slowakei, sondern auch für Griechenland.

»Die Diskriminierung der Roma in Griechenland ist unglaublich«, sagt Rhodes, und die EU-Mitgliedschaft des Landes hat daran nichts geändert. Im Gegenteil. »Wenn ein Land erst einmal Mitglied im Club ist, dann hat Brüssel wesentlich weniger Interventionsmöglichkeiten als bei Ländern, die erst in die EU möchten. Der Druck bricht dann schnell zusammen.«

Zwar hätten die Rechte der Minderheiten in der Slowakei, Ungarn und Tschechien bei den Beitrittsverhandlungen eine Rolle gespielt. Sichtbare Ergebnisse hat das aber offensichtlich nicht gebracht. Rund zehn Prozent der slowakischen Bevölkerung sind Roma, doch das Land hat praktisch keine Anstrengungen unternommen, die nach den Ungarn zweitgrößte Minderheit des Landes zu integrieren (Jungle World, 11/04). 60 Prozent der Slowaken schwebt eine Lösung des Problems vor, wie sie Südafrika mit der Apartheid-Politik jahrzehntelang durchgehalten hat: die Trennung der Roma vom Rest der Bevölkerung.

97 Prozent der Roma in der Slowakei sind arbeitslos. Vor einigen Jahren haben sie deshalb begonnen, in westeuropäischen Staaten politisches Asyl zu beantragen. Einige Regierungen haben daraufhin die Visumpflicht für slowakische Staatsbürger eingeführt. Nach einem EU-Beitritt der Slowakei ist derartiges naturgemäß nicht mehr möglich, weshalb angesichts der noch immer verheerenden Situation in der Slowakei ein Exodus der Roma in andere EU-Staaten erwartet wird.

Ein ähnliches Problem tut sich auch in Tschechien auf, wo immerhin rund 300 000 Roma leben. Sie sind vor 1989 aus der Slowakei, Ungarn und Rumänien in die wirtschaftlich relativ verlockenden tschechischen Industriegebiete gezogen und haben dort immerhin Arbeitsplätze gefunden. Nach der Wende blieben nur noch Sozialhilfe und Kindergeld als Einkommensquellen. Und wiewohl die tschechischen Roma zumindest vor 1989 als Industriearbeiter in die Gesellschaft vergleichsweise gut integriert waren, blieben Vorurteile bestehen, worunter besonders die Kinder und Jugendlichen zu leiden hatten. »Das Erziehungswesen der Tschechischen Republik bleibt in alarmierender Weise den Roma gegenüber voreingenommen. Das schlimmste Problem ist, dass Roma-Kinder quasi automatisch in Sonderschulen für körperlich und geistig Behinderte eingewiesen werden«, heißt es in einem Bericht des Open Society Institute.

Menschenrechtler wie Aaron Rhodes sind der Ansicht, dass die EU gerade im Falle der Roma kaum auf die Durchsetzung europäischer Standards drängte, was auch daran liegt, dass es innerhalb der EU-Legislative praktisch keine Standards für die Behandlung von Minderheiten gibt. Die kommen meist von anderen, wenig einflussreichen Organisationen wie dem Straßburger Europarat oder der Wiener Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE).

Innerhalb der EU sorgt das zentralistische Frankreich dafür, dass Minderheitenrechte keine hohe Priorität genießen. Möglicherweise wird die EU ihre Politik mit der Aufnahme neuer Staaten mit viel komplexeren Bevölkerungsstrukturen überdenken müssen.

Das gilt auch für die kleine Republik Slowenien, die sich mit der Aufnahme in die EU plötzlich mit der Lösung eines Problems befassen muss, das noch aus der jugoslawischen Vergangenheit mitgeschleppt wird. Rund 18 000 der etwa zwei Millionen Slowenen gehören nämlich zur Gruppe der »Ausgelöschten«. Gemeint sind Bürger anderer ehemaliger jugoslawischer Teilrepubliken, die wegen restriktiver Regelungen schon vor Jahren schlicht aus dem Bevölkerungsregister gestrichen wurden.

Nach der Unabhängigkeit Sloweniens 1991 erhielten sie nicht automatisch die Staatsbürgerschaft und mussten sich binnen sechs Monaten um diese bewerben. Viele haben die Frist versäumt, viele wurden auch falsch informiert. Das slowenische Verfassungsgericht hat nun die Streichung der 18 000 »Ausgelöschten« aus dem Bevölkerungsregister rückgängig gemacht. Doch am vergangenen Sonntag haben die Slowenen in einem von der rechten Opposition angestrengten Referendum dafür gestimmt, dass die 18 000 Menschen doch wieder »ausgelöscht« werden sollen. Allerdings lag die Wahlbeteiligung bei 30 Prozent, womit die Wahl las nicht bindend galt. Der Streit wird wohl in die Zeit nach dem EU-Beitritt vertagt.