Die Anarchos kommen

Durch die EU-Erweiterung erhält die außerparlamentarische Linke Verstärkung: Das Neue Europa Teil III. von martin kröger

Die Rechnung der europäischen Wirtschaftselite geht nicht auf. Durch eine Verlegung des Europäischen Wirtschaftsforums (EWF) aus dem irischen Dublin in die polnische Hauptstadt Warschau wollte man Protesten ausweichen. Gegen das diesjährige EWF, das kurz vor der geplanten Erweiterung der EU vom 28. bis zum 30. April unter dem Titel »Europa – Erweiterung und darüber hinaus« stattfinden soll, ruft nun ein breites Bündnis aus globalisierungskritischen und anarchistischen sowie Antikriegsgruppen zu einer Großdemonstration und einem alternativen Gegengipfel auf.

Dabei soll es nicht bei bloßem Protest bleiben. In Seminaren, Workshops und Happenings sollen Gegenkonzepte zur derzeitigen hegemonialen neoliberalen Politik erarbeitet werden. Wobei der Schwerpunkt auf der »Verbesserung der Kritik der aktuellen ökonomischen Entwicklungen und Trends und dem Vorschlagen von radikalen Alternativen« liegen soll, wie die Veranstalter zuvor ankündigten. Währendessen malen die polnischen Medien ein Horrorszenario der Gewalt an die Wand, weswegen, wie schon in Salzburg und bei ähnlichen Gipfeln in Davos und Genua, der Konferenzbereich der EWF-Teilnehmer hermetisch abgeriegelt werden soll.

An der Vorbereitung zum Gegengipfel, der zur selben Zeit stattfindet, beteiligen sich nicht nur polnische Gruppen, sondern auch Organisationen aus Tschechien, Russland, Weißrussland und weiteren osteuropäischen Staaten sowie Deutschland. Auch die außerparlamentarische EU-Linke erweitert sich. In Warschau trifft sie auf eine äußerst vielfältige und subkulturell verankerte Bewegung, die sich nicht nur mit Kapitalismuskritik beschäftigt, sondern auch Geschlechter-, Umwelt- und Antimilitarismusfragen auf ihrer politischen Agenda hat. Zudem führen die osteuropäischen Gruppen seit Jahren eine kritische Auseinandersetzung mit dem realsozialistischen Erbe und der stalinistischen Diktatur, was zu einer zumeist antiautoritären Ausrichtung der Gruppen geführt hat. Die Aktivisten aus den neuen EU-Ländern sind in ihrer politischen Arbeit allerdings viel prekäreren wirtschaftlichen Umbrüchen und Notsituationen ausgesetzt, was den Widerstand gegen die Privatisierungen und den Umbau der Gesellschaften im Vergleich zu Westeuropa ungleich schwieriger macht.

Während es in Polen in den letzten Jahren immer wieder Betriebsbesetzungen wie beispielsweise im Kabelwerk Ozarow oder der Textilfabrik Odra in Szczecin (Stettin) gab (Jungle World, 6/04) und sogar Werftarbeiter in Szczecin ihre Rückverstaatlichung forderten, stellt sich die Situation für antiautoritäre Linke in Tschechien und der Slowakei komplizierter dar. »Denn trotz des voranschreitenden Abbaus der sozialen Sicherungssysteme des tschechischen Staats ist kein Anzeichen von kollektivem proletarischen Widerstand sichtbar«, berichtet Jindrich Lukas von der Organisation Revolutionärer Anarchisten (Ora) aus Prag. Vorhandene Widerstandspotenziale werden von den Gewerkschaften kanalisiert und entschärft. Die kleine anarchistische Gruppe mit Mitgliedern in Prag und Brno versucht, sich weder »mit Hyperaktivismus noch mit einer Flucht in philosophische Lektüre« aus dieser Lage zu retten. »Wir versuchen nur, die Welt um uns herum besser zu verstehen, das Gegenteil auszudrücken und zu intervenieren«, sagt Lukas. Hierfür produziert Ora das zweimonatige Internetmagazin Alarm und betreibt zusammen mit anderen das kollektive Infocafé Moles Column in Prag.

Wie in Tschechien und Polen wird der soziale Widerstand gegen die martwirtschaftlichen Veränderungen in der Slowakei vornehmlich von anarchistischen und anarcho-syndikalistischen Kreisen organisiert, genauso wie in den beiden südeuropäischen Beitrittsländern Malta und Zypern. Neben der Priama Akcia (Direkte Aktion) und der Slowakischen Sektion der Tschechischen Anarchistischen Föderation beteiligen sich dort noch die Antifaschistische Aktion Bratislava (AAB) und Food not Bombs, die vegane Volxküchen für Arme organisieren, aktiv am Kampf gegen den Sozialabbau. »Dazu kommen noch ein Straßenpartykollektiv und Einzelpersonen«, wie Michael Tulik, für Internationales zuständiger Sekretär der in Bratislava ansässigen Priama Akcia, die antiautoritäre Szene beschreibt. »Alle Organisationen leiden unter fehlenden finanziellen und technischen Ressourcen«, sagt Tulik. Besonders mangelt es an Druckmaschinen und gesicherten Treffpunkten, an denen Veranstaltungen abgehalten werden können. Außerdem haben die slowakischen Antiautoritären unter Angriffen von Neonazis zu leiden. Ein Problem, das in fast jedem der neuen osteuropäischen Beitrittsländer existiert.

Die slowakischen Aktivisten beteiligen sich wie ihre Kollegen in Tschechien an Streik- und Solidaritätsaktionen. Als die inzwischen abgewählte demokratische Regierung der Slowakei Anfang März die Sozialhilfe radikal kürzte, woraufhin sich die davon in besonderer Weise betroffenen Roma des Landes erhoben, beteiligten sich auch slowakische Anarchisten an den Solidaritätsaktionen für die Roma. Als nächstes sind Aktionen gegen ein Nato-Treffen in der Ostslowakei Ende Mai geplant. Dazu will die Priama Akcia dort ein Konzert organisieren.

Solche Konzerte dienen der osteuropäischen anarchistischen Szene als Kitt. Selbst in den größtenteils ländlich und kleinstädtisch geprägten Beitrittsländern des Baltikums, Estland, Lettland und Litauen, gibt es regelmäßig Punk-, Ska- und Hardcore-Konzerte, die die ansonsten eher isolierten Szenen zusammenbringen. Die daraus hervorgegangenen subkulturellen Bands und Combos stellen auch eine wichtige Brücke und Schnittstelle zu den westeuropäischen alternativen Milieus dar. Zudem haben sich fast überall Indymedia-Netzwerke gebildet, die als Nachrichten-, Kommunikations- und Austauschplattformen dienen.

Eine der direkten Auswirkungen der EU-Erweiterung ist die Verschiebung der rigiden Grenzregime nach Osten. Antirassistische Aktivitäten zur Bekämpfung von vorgeblich undurchlässigen Grenzen sind Unternehmungen, bei welchen es in den letzten Jahren in größerem Maße bereits zu Kooperationen zwischen westeuropäischen und osteuropäischen Linken kam. No-BorderCamps gab es in Polen, Slowenien und Rumänien. Auch Grenzcamps in Ostdeutschland wurden in Zusammenarbeit mit osteuropäischen antirassistischen Gruppen veranstaltet. Für dieses Jahr sind wiederum Camps in Planung, unter anderem ein Frauencamp und eine Besichtigungstour an der gesamten neuen osteuropäischen Außengrenze. Wobei Aktivisten aus Weißrussland und der Ukraine erstmals wegen den neuen Visa-Bestimmungen von den Zeltlagern ausgeschlossen sein könnten.

So stellt die Grenzpolitik für die antiautoritären Gruppen eines der größten Ärgernisse der EU-Erweiterung dar, die ansonsten nur als ein Teil der globalen Ausbreitung des kapitalistischen Systems kritisiert wird.