Keine Hysterie!

George Bushs Brief an Ariel Sharon von stefan vogt

Nach dem Treffen zwischen dem US-amerikanischen Präsidenten George W. Bush und Israels Ministerpräsident Ariel Sharon schlagen die Wellen hoch. Von einem »historischen Schritt« Sharons ist die Rede, der erstmals einen Plan zum Rückzug aus Teilen der besetzten Gebiete vorgelegt habe, zur gleichen Zeit von einer »Wende« in der amerikanischen Nahostpolitik, weil Bush der Annexion israelischer Siedlungszentren in der West Bank zugestimmt und das Recht der palästinensischen Flüchtlinge auf Rückkehr nach Israel endgültig abgelehnt habe. In manchen palästinensischen Äußerungen ist sogar von einer Katastrophe die Rede, deren Ausmaß die Balfour-Deklaration oder gar die »Nakhba« noch übertreffe.

Dergleichen Hysterie ist jedoch unangebracht. Der Brief Bushs an Sharon spricht zwar davon, dass eine endgültige Lösung die »neuen territorialen Realitäten« anerkennen müsse und eine vollständige Rückkehr zur Waffenstillstandslinie von 1949 »unrealistisch« sei. Er erklärt jedoch zugleich, dass diese Lösung nur auf der Grundlage einer beidseitigen Einigung zustande kommen kann. Die Annexion von bestimmten israelischen Siedlungsblöcken entlang der grünen Linie und um Jerusalem – allerdings im Austausch gegen israelisches Territorium – und die weitgehende Beschränkung der Rückkehr der Flüchtlinge auf den zu schaffenden palästinensischen Staat entspricht selbst den Vorstellungen, wie sie in der so genannten Genfer Initiative formuliert wurden.

Ebenso wenig bedeutet der geplante israelische Rückzug aus dem Gazastreifen und Teilen der Westbank eine grundsätzliche Änderung der Politik Sharons. Dass die Besatzung in dieser Form nicht länger aufrechterhalten werden kann, ist Sharon bewusst. Israel befindet sich hier seit langem in einem Rückzugsgefecht, und nicht nur aus demographischen Gründen. Mit der Aufgabe des Gaza-streifens will Sharon Zeit gewinnen, um zumindest vorläufig die Siedlungen in der West Bank halten zu können. Das Ende des Konflikts wird damit aber nicht näher rücken.

In einem Punkt jedoch könnte der Rückzug tatsächlich eine substanzielle Veränderung bedeuten. Er soll einseitig erfolgen und nicht mit dem Wiederaufbau der zerstörten Autonomiebehörde (PA) verbunden sein. Es steht daher zu erwarten, dass die Hamas, deren Einfluss in Gaza besonders groß ist, in die entstandene Lücke zu schlüpfen versucht. Israel hätte damit einen kleinen, jedoch dicht besiedelten islamistischen Staat geschaffen, dessen Führung alles daran setzen würde, seinen Nachbarn mit Terror zu überziehen.

Der Rückzugsplan offenbart erneut die eigentliche Problematik der israelischen Politik. Sharon hat keine konsistente Vorstellung, wie der Konflikt langfristig gelöst werden könnte. Seine Handlungen zielen lediglich darauf, die eigentlichen Entscheidungen zu vertagen und stattdessen den Status quo zu erhalten. Die Regierung in Jerusalem nimmt daher billigend in Kauf, dass die PA, der einzig mögliche Partner für eine Lösung, weiter geschwächt wird. Dass der Abzug aus dem Gazastreifen nicht mit dieser, sondern mit Bush vereinbart wurde, dient ebenso wie die gezielten Tötungen von Hamas-Führern wie jüngst Abdel Aziz Rantisi nicht der Stabilisierung der Region, sondern derjenigen der israelischen Regierung.

Der Konflikt wird von Israel weder auf militärischem Wege noch durch Rückzüge einseitig gelöst werden können. Der Rückzugsplan Sharons ist kein Schritt zu einer solchen Lösung, unterscheidet sich aber darin nicht von seiner bisherigen Politik. Vielleicht könnte er jedoch dazu beitragen, in der israelischen Gesellschaft das Bewusstsein zu schärfen, dass die fortdauernde Besatzung nicht nur den demokratischen Charakter des Staates, sondern auch seine Existenz bedroht.