Nach dem Absturz

Trotz miserabler Wirtschaftslage drängt es Mazedonien in die EU. Zurzeit finden Präsidentschaftswahlen statt. von markus bickel, skopje

Für Aufregung sorgten nur ein paar Freudenschüsse in den Abendhimmel von Tetovo. Ausgerechnet Anhänger der Albanischen Demokratischen Partei (DPA), deren Kandidat Zudi Xhelili nicht einmal zehn Prozent der Stimmen erhielt, waren es, die die ruhige erste Runde der mazedonischen Präsidentschaftswahl in Mazedonien störten. Und das, obwohl die Partei selbst im inneralbanischen Vergleich als Verlierer hervorging: Gezim Ostreni von der Demokratischen Union für Integration (DUI) holte fast 60 000 Stimmen mehr – und dürfte seine Wähler in den nächsten Tagen auffordern, ihr Kreuzchen am kommenden Mittwoch beim Kandidaten des Sozialdemokratischen Bundes (SDMS), Premierminister Branko Crvenkovski, zu machen. Denn der DUI-Koalitionspartner in der Regierung in Skopje tritt bei der Stichwahl nächste Woche gegen den Zweitplatzierten der ersten Runde, den konservativen Kandidaten Sasko Kedev, an.

Sieben Wochen nach dem tödlichen Flugzeugabsturz des prowestlichen Präsidenten Boris Trajkovski holte Crvenkovski wie erwartet die Mehrheit der Stimmen. Das einzige, was den Karrierepolitiker, der bereits mit 29 Jahren zum ersten Mal Ministerpräsident war, am Sprung von der Regierungsspitze ins Präsidentenamt hindern könnte, ist eine zu geringe Wahlbeteiligung. Mit 55 Prozent der 1,6 Millionen Wahlberechtigten lag diese schon im ersten Wahlgang nur fünf Punkte über der Pflichtmarge, und erfahrungsgemäß fällt sie in der zweiten Runde noch geringer aus. Von ihren politischen Zielen nehmen sich der 41jährige Crvenkovski und sein gleichaltriger Gegner Kedev ohnehin wenig: Beide setzen auf die baldige Nato-Mitgliedschaft der früheren jugoslawischen Teilrepublik und hoffen, noch vor 2010 in die Europäische Union aufgenommen zu werden.

Am Tag des Flugzeugabsturzes Trajkovskis über Bosnien-Herzegowina war Crvenkovski gerade nach Dublin gekommen, um den EU-Aufnahmeantrag Mazedoniens an den amtierenden EU-Ratspräsidenten, Bertie Ahern, zu übergeben. Doch als der Premierminister die Nachricht vom Tod seines Präsidenten erhielt, machte er auf der Stelle kehrt und setzte sich in den Flieger zurück nach Skopje. Dort herrscht seit dem Tod des auch von der albanischen Minderheit geachteten Trajkovski Ende Februar Katerstimmung – das Aufbruchssignal, das der Antrag auf Unionsmitgliedschaft nach dem Willen der Regierung senden sollte, blieb aus.

Zwar holte Crvenkovski die Übergabe des Aufnahmeantrags Ende März nach. Doch die Dynamik der südlichsten der ehemaligen Tito-Republiken in Richtung Euroklub ist erst mal dahin. Und das nicht nur wegen des Todes des beliebten Präsidenten, sondern vor allem, weil die seit Jahren angeschlagene Wirtschaft trotz erheblicher Unterstützung aus Brüssel kaum auf die Beine kommt. Immer noch übersteigen die Importe die Ausfuhren um fast das Doppelte. Investitionen machen weniger als ein Fünftel des Bruttoinlandsproduktes aus. »Das ist sehr wenig«, übt Wirtschaftsminister Ilija Filipovski Selbstkritik. »Das muss sich ändern, wenn die volkswirtschaftliche Situation insgesamt verbessert werden soll.«

Immerhin: Im dritten Jahr hintereinander weist die Wachstumsbilanz ein Plus vor dem Komma auf. Die Weltbank erwartet eine Entspannung der Lage auf dem Arbeitsmarkt. Zurzeit ist ein Drittel der zwei Millionen Bewohner ohne Job. Und auch das Büro des EU-Sondergesandten in Skopje, Sören Jessen-Petersen, verteilt zumindest rhetorisch Leckerbissen an die gebeutelte Regierung: »Mazedonien übernimmt eine Führungsrolle bei der Kooperation mit seinen Nachbarländern im Bereich kleiner und mittlerer Unternehmen, etwas, das die EU sehr schätzt.«

Schöne Worte, die jedoch kaum darüber hinwegtäuschen können, dass sich die Transaktionen mit den regionalen Partnern im Volumen von Drittweltstaaten bewegen. Nur Bosnien-Herzegowina und die Ukraine weisen in Osteuropa schlechtere Zahlen auf. Schon nach den bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Regierungstruppen und Kämpfern der panalbanischen Nationalen Befreiungsarmee (UCK) 2001 war das Wirtschaftsaufkommen in den Keller gesackt. Und mit vier Prozent Wachstum im vergangenen Jahr ist der Vorkriegszustand noch lange nicht erreicht. Der Leiter der Weltbank-Dependence in Skopje, Franek Rozwadoski: »Die wichtigste Aufgabe, die sich stellt, ist die Reduzierung der Ausgaben in der aufgeblähten öffentlichen Verwaltung.«

Noch stärkerer Beobachtung als der durch die Weltbank- und IWF-Emissäre ist die Regierung aus Brüssel ausgesetzt. »Wir müssen Mazedoniens ambitioniertes Reformprogramm unterstützen«, erklärte EU-Kommissionschef Romano Prodi auf der Trauerfeier Anfang März. Das noch von Trajkovski im letzten Herbst unterzeichnete Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit der Union bedeutet, dass zumindest die erste Hürde auf dem langen Weg zur späteren Vollmitgliedschaft genommen ist. Abgesehen von Slowenien, das bereits ab Mai der Union angehören wird, ist Mazedonien neben Kroatien erst die zweite der sechs exjugoslawischen Teilrepubliken, mit der Brüssel einen solchen Vertrag geschlossen hat.

In barer Münze ausgezahlt haben sich die an den Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess geknüpften Hoffnungen bislang jedoch nicht. Und auch die freudigen Verheißungen des Hohen Repräsentanten der EU für ihre Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Javier Solana, beim Ohrider Friedensschluss vom August 2001 sind weitgehend vergessen – kein Wunder angesichts der von Arbeitslosigkeit und fehlenden Perspektiven vor allem für die junge Bevölkerung geprägten Realität.

Außerdem sorgten im vergangenen Jahr Anschläge der UCK-Nachfolgeorganisation Albanische Nationalarmee erneut für Unruhe. Der den Separatisten zumindest ideell nahe stehende DPA-Vorsitzende Arben Xhaferi warnte vorige Woche gegenüber der Jungle World zudem vor einem Auseinanderbrechen der in Ohrid vereinbarten fragilen Machtbalance, sollte Crvenkovski im zweiten Wahlgang zum Präsidenten gewählt werden: »Das wäre ein Warnsignal für die fragile Demokratie in unserem Land.«

Der von Solana maßgeblich mitgestaltete Friedensvertrag sieht unter anderem vor, dass Albanisch in den Gebieten als offizielle Zweitsprache anerkannt wird, wo der albanische Bevölkerungsanteil mehr als zwanzig Prozent beträgt. Darüber hinaus wird der auf ein Viertel geschätzten albanischen Bevölkerung eine stärkere Präsenz in der lokalen Verwaltung eingeräumt. Angesichts der zögerlichen Realisierung dieser Bestimmungen durch die Regierung Crvenkovskis befürworte Xhaferi die Einrichtung eines internationalen Protektorats in den mehrheitlich albanisch besiedelten Gebieten im Westen des Landes. In Anspielung auf den Hohen Repräsentanten der internationalen Gemeinschaft in Bosnien, Paddy Ashdown, sagte er: »Wir brauchen eine Art Ashdown auch für Mazedonien.«

Ob der designierte Präsident Crvenkovski das ehrgeizige Ziel, noch in diesem Jahrzehnt die strengen EU-Aufnahmekriterien zu erfüllen, erreichen kann, ist fraglich: Während es der einstigen sozialistischen Bruderrepublik Kroatien mit ihrem voriges Jahr gestellten Beitrittsgesuch gerade noch gelang, den Anschluss an das künftige Neumitglied Slowenien zu halten, liegt die EU aus Sicht der meisten mazedonischen Bürger in weiter Ferne. Wie Bosnien, Serbien, Montenegro, Albanien und das Kosovo gehört das Zweimillioneneinwohnerland zu den in Brüssel als »Kandidaten der zweiten Runde« bezeichneten Balkan-Staaten.