Was der Staat sich leistet

Der Ausgang des Hamburger Terrorprozesses verrät einiges darüber, wie die Bundesrepublik ihr Gewaltmonopol handhabt. von felix klopotek

Abdelghani Mzoudi wurde am 5. Februar 2004 vor dem Hamburger Oberlandesgericht freigesprochen, am 4. März hat der Bundesgerichtshof das Urteil gegen Mounir al Motassadeq aufgehoben, der seit dem 7. April schließlich wieder auf freiem Fuß ist. Drei Termine, die das Ende des weltweit ersten Prozesses wegen der Terroranschläge vom 11. September 2001 markieren.

Sicher, Motassadeq wird sich ab dem Sommer wieder vor dem Oberlandesgericht verantworten müssen, aber es geht dann wohl »nur« noch um die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, weniger darum, ob er der Statthalter der Hamburger Terrorzelle um Mohammad Atta war. Auch wird von der Bundesanwaltschaft erwartet, dass der Bundesgerichtshof den Freispruch Mzoudis kassiert. Das letzte Wort darüber, ob Mzoudi ein Angehöriger der Atta-Gruppe oder nur ein Bekannter der Terroristen war, ist also noch nicht gesprochen.

Wer zu diesen überraschenden Vorgängen sein eigenes staatsbürgerliches Gemüt befragt, kommt zu zwei sich widersprechenden Einschätzungen. Zum einen: Erleichterung. Der Rechtsstaat funktioniert noch. Die Justiz lässt sich nicht von der Politik irritieren, in der Scharfmacher wie Schily oder Beckstein dominieren und entscheidet im Zweifel für den Angeklagten. Der an Willkür grenzende inneramerikanische Anti-Terror-Kampf mit seinen Sonderbehörden und in Beugehaft genommenen arabischen Bürgern lässt sich hier nicht durchsetzen. Zum anderen: Entsetzen. Mzoudi und Motassadeq sind einschlägig bekannte Islamisten, für deren Schuld es allerdings nur lückenhafte Beweise gibt. Denn amerikanische Behören halten den zentralen Zeugen und Mittäter, Ramzi Binalshibh, mit Verweis auf eigene nationale Sicherheitsinteressen zurück. Kann die amerikanische Staatsräson so borniert sein, dass sie ausgerechnet das erste Urteil in einem Prozess zum 11. September hintertreibt? Sollen denn ausgerechnet Islamisten das juristische Objekt sein, an dem deutsche Richter ihre Toleranz erproben?

Das staatsbürgerliche Gemüt steckt in einem Dilemma. Der Rechtsstaat funktioniert, aber das Urteil ist trotzdem schlecht. Das Dilemma wird noch dadurch verstärkt, dass jede Seite die andere mit finalen Argumenten kontern kann: Ihr seid für tolerante Richter und eine liberale Rechtssprechung? Die Islamisten, Neonazis und Antisemiten werden sich bedanken. Ihr seid für die Wiederauflage der wehrhaften Demokratie? Dann schaut doch mal nach Guantanamo oder sprecht mit einem der US-amerikanischen Justizopfer.

Es gibt allerdings einen gemeinsamen Fluchtpunkt, auf den beide Perspektiven zustreben: das Gewaltmonopol des Staates. Wie die unterschiedlichen Seiten auch immer argumentieren mögen, sie laufen auf die Frage nach dem Gewaltmonopol hinaus. Ist es trotz des Freispruchs angemessen gewahrt? Oder ist der Freispruch ein Kniefall vor dem Terrorismus, ein Eingeständnis der Schwäche (oder gar des geheimen Einverständnisses) und damit eine Abschwächung des Gewaltmonopols, dessen Gehalt Carl Schmitt in dem berüchtigten Diktum zusammenfasste, wonach souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet?

Das Dilemma löst sich auf, wenn man die Perspektive umkehrt, wenn sich die Staatsfixierung auflöst. Das Gewaltverhältnis, das der Staat und seine Organe darstellen, ist nicht mehr der Fluchtpunkt, sondern der Ausgangspunkt der Überlegungen. Im Mittelpunkt steht nicht die Frage, ob die Hamburger Freisprüche für oder gegen »unseren« Rechtsstaat sprechen, sondern inwiefern sie Ausdruck des Gewaltmonopols sind.

Das Gewaltmonopol ist bekanntlich in sich differenziert: Es herrscht Gewaltenteilung. Die Regierung beschließt als Exekutive die Auslandseinsätze ihrer Armee. Die Judikative legitimiert diese und regelt ein Beschlussverfahren. Die Legislative setzt in einer Abstimmung dieses Verfahren um und erteilt damit der Regierung eine Vollmacht.

Natürlich gibt es auf der Ebene der Judikative und der Legislative die Möglichkeit des Einspruchs und der Revision. Aber all diese Verfahren, ob Legitimation oder Revision, erfolgen vor dem Hintergrund des höheren Interesses der Nation. Ganz platt gesagt: Peter Struck verteidigt am Hindukusch nicht die Firmeninteressen von VW oder Siemens, er verteidigt »unsere Freiheit«. Das hat einen wahren Kern, insofern der Staat ein nationales Allgemeininteresse formuliert, das ebenso sehr den Klassenkampf volksgemeinschaftlich aufheben, wie die tendenziell mörderische Konkurrenz der Kapitalisten untereinander bändigen soll.

Wenn in Hamburg Leute freigesprochen werden, die zu überführen wohl ein Leichtes gewesen wäre, dann zeugt das auch von einem – rechtlichen, gesellschaftlichen beziehungsweise nationalen – Zustand, der die Freilassung möglich macht. Es herrscht kein nationales Sicherheitsinteresse, das fordert, alle arabischen Bürger zwischen 18 und 35 Jahren unter Generalverdacht zu stellen. Mehr noch, es gibt keinen Widerspruch zwischen den Terrorpaketen, die Schily unaufhörlich schnürt, und einer reflektierten oder liberalen Rechtsprechung.

Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Konrad Freiberg, stöhnte zwar, der Ausgang des Prozesses sei für alle Beschäftigten der Sicherheitsbehörden nur schwer nachzuvollziehen. Aber da spricht die Borniertheit seiner Profession aus ihm. Denn die Judikative verbietet ja nicht die Terrorpakete der Regierung als verfassungsfeindlich, sondern akzeptiert sie als Handlungsgrundlage und Arbeitsanweisung der Sicherheitsbehörden. Vor diesem Hintergrund der zunehmenden Kontrolle samt der Avancen in Richtung Folter und Beugehaft muss man die Freisprüche verstehen. Sie stehen zu den neuen Sicherheitsmaßnahmen nicht im (liberalen) Widerspruch, sie entsprechen ihnen. Man kann es sich leisten, mutmaßliche Terroristen freizusprechen resp. ihrer Berufung stattzugeben, man hat die Sache im Griff. Mounir al Motassadeq darf Hamburg nicht verlassen, er darf sich keinen neuen Pass besorgen und muss sich zwei Mal pro Woche bei der Polizei melden. Er muss jeden Umzug melden und immer pünktlich vor Gericht erscheinen.

»Die Sache im Griff haben« heißt nicht, dass es nicht auch irgendwann zu größeren Terroranschlägen in Deutschland kommen könnte. Da die so genannte asymmetrische Kriegsführung der Terroristen wesentlich das Moment der Unkontrollierbarkeit beinhaltet, ist neben der Prävention der Umgang mit einem solchen Anschlag das Entscheidende. Es geht darum, selbst dann, wenn die Staatsorgane reagieren müssen, das Heft sich nicht aus der Hand schlagen zu lassen und gegenüber den Terroristen in the long run die eigene Handlungsfreiheit auszuspielen. Das ist zynisch und doch nur die ganz normale Staatsräson, der Hanns Martin Schleyer geopfert wurde, um die absolute Machtlosigkeit der RAF zu demonstrieren.

Last but not least: die Grenzen des Gewaltmonopols. Sie werden im Hamburger Fall durch die USA und ihre Souveränität bestimmt, denn der entscheidende Zeuge, der mutmaßliche Logistiker der Atta-Clique, Ramzi Binalshibh, ist in amerikanischem Gewahrsam und steht trotz mehrmaliger Anfragen der deutschen Seite nicht zur Verfügung. Ganz gleich, ob er Motassadeq oder Mzoudi be- oder entlastet hätte, ohne ihn hat sich nun mal die unüberbrückbare Lücke im Verfahren ergeben. Die Amerikaner sehen nationale Sicherheitsinteressen beeinträchtigt, die sie nicht näher zu erläutern brauchen, und entscheiden souverän.

Die deutschen Gerichte entscheiden ebenfalls souverän. Um es mit Peter Hacks zu sagen: »Die Außenpolitik ist an der Politik das Geistlose. Sie kennt keine Gründe als den Grund der Macht.«