Draußen vor dem Tore

Nicht Alle dürfen bei der Erweiterung der EU mitspielen. Die Ukraine bleibt ausgeschlossen und muss sich nach allen Seiten um gute Beziehungen bemühen. von franziska bruder, lviv

Schengener Mauer nennt man in der Ukraine das neue Grenzregime, das mit der EU-Erweiterung am 1. Mai an der Westgrenze des Landes in Kraft tritt. Die Ukraine grenzt gleich an mehrere neue Mitgliedsländer: an Polen, die Slowakei und Ungarn. Hier verläuft künftig die neue östliche Außengrenze der EU. Mit all diesen Ländern sowie mit EU-Gremien hat die Ukraine in den letzten Jahren umfangreiche Verhandlungen geführt, um möglichst weitgehende Visa-Erleichterungen und Handelsmöglichkeiten zu vereinbaren. Die Angst, noch weiter von Polen und anderen europäischen Ländern abgehängt zu werden, sitzt in der Ukraine tief.

Die Visumspflicht für Ukrainer, die nach Polen reisen möchten, wurde bereits am 1. Oktober 2003 eingeführt. Seitdem ist der im Grenzgebiet für beide Seiten überlebenswichtige Kleinhandel praktisch zum Erliegen gekommen. Die zweite Phase folgte am 1. April 2004 mit der Einführung eines neuen Zollgesetzes, das noch weiter reichende Beschränkungen als bislang üblich für Alkohol und Zigaretten fixiert. Nur noch einen Liter Schnaps, zwei Liter Wein und fünf Liter Bier sowie 200 Zigaretten dürfen nach Polen zollfrei eingeführt werden. Medikamente dürfen nur im Gepäck sein, wenn sie für den eigenen Gebrauch notwendig sind, und der Wert der mitgeführten Waren darf insgesamt 175 Euro nicht überschreiten. Ist man jünger als 15 Jahre, darf der Wert nicht mehr als 90 Euro betragen. Selbst Waren, die im Prinzip zollfrei sind, müssen schriftlich deklariert werden.

Für Personen, die im Grenzgebiet wohnen oder aufgrund ihres Berufes häufig die Grenze überqueren wie Lkw-Fahrer, sind die Bestimmungen noch rigider. Sie dürfen nur einen halben Liter Schnaps und zwanzig Zigaretten dabei haben sowie Waren im Wert von 90 Euro. Insgesamt dürfen Ukrainer lediglich einmal pro Monat zollfreie Waren über die Grenze bringen. Minderjährige dürfen generell keine zollfreien Waren transportieren. Das mag für westeuropäische Ohren unspektakulär klingen, für die Menschen vor Ort bedeuten diese Regelungen jedoch eine weitere dramatische Verschlechterung ihrer Situation. Mit der Zollregelung sollen die letzten Löcher der Mauer zugekleistert werden.

Daneben verfolgen die polnischen Grenzbeamten ihre eigenen Interessen. Im letzten Herbst wurden an den Grenzstationen Razzien vorgenommen, um der Korruption der Grenzbeamten einen Riegel vorzuschieben. Aber je strikter die offiziellen Bestimmungen, desto höher der Preis für die Bewohnerinnen und Bewohner der Grenzregion beim Warentransport, der den Grenzbeamten zu zahlen ist. Gab es in den vergangenen Monaten immer wieder Streiks polnischer Zollbeamter, die gegen ihren Willen an die neue Grenze im Osten versetzt wurden, so stauten sich in den letzten Wochen die Lkw an der ukrainischen Grenze, da die polnischen Kollegen aus Unmut über ihre Arbeitsbedingungen Dienst nach Vorschrift leisteten. Warteten Lkw früher ein bis zwei Tage auf ihre Abfertigung, kann es im Moment eine Woche und länger dauern.

Am 20. April 2004 ratifizierte das ukrainische Parlament drei zukunftsweisende Verträge; zunächst den Vertrag, mit dem die Ukraine mit Russland, Kasachstan und Weißrussland einen gemeinsamen Wirtschaftsraum gründet. Dieses Projekt ist in der Ukraine sehr umstritten, da die Stimmenverteilung in einem noch zu schaffenden Koordinationsgremium gemäß der Wirtschaftskraft verteilt sein soll, was der offenen Dominanz Russlands weiter Vorschub leisten wird.

Der zweite Vertrag betrifft eine Vereinbarung zwischen Russland und der Ukraine über die gemeinsame Nutzung des Asowschen Meeres, eines Nebenmeers des Schwarzen Meeres, und der Seestraße von Kertsch. Hintergrund ist ein für die Ukrainer schwer wiegender, im Westen aber kaum zur Kenntnis genommener Grenzkonflikt mit Russland bezüglich der Insel Tuzla, der seit vergangenem Herbst schwelt. In der Ukraine befürchtet man, dass Russland seine Ambitionen auf ukrainisches Territorium nach wie vor nicht aufgegeben hat. Das Recht auf gemeinsame Nutzung des Asowschen Meerraumes, das bislang nur der Ukraine zustand, ist ein großes Zugeständnis angesichts der geostrategischen Ambitionen Russlands. Im Gegenzug wurde ein Vertrag über die russisch-ukrainische Landgrenze ratifiziert. Seit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 hatte sich Russland um die Anerkennung der Grenze gedrückt und vor allem bezüglich der Krim versucht, verloren gegangenen Boden wettzumachen.

Parallel zu den Verhandlungen mit den östlichen Nachbarn laufen die Gespräche mit Gremien der EU und einzelnen Mitgliedsländern. Das für die Ukraine wohl bedeutsamste Ereignis auf höherem politischen Level war der Besuch des ukrainischen Präsidenten Leonid Kutschma im Februar 2004 in Berlin. Ergebnis der Reise war ein Vertrag über die »finanzielle Zusammenarbeit zwischen den Regierungen beider Länder«, der mit einem Darlehen von 14 Millionen Euro an die Ukraine verbunden war, mit dem kleine und mittelständische Betriebe gefördert und unterstützt werden sollen. Dafür musste sich Kutschma einige Ermahnungen zur Einhaltung der Pressefreiheit anhören und wurde darüber hinaus gebeten, im Herbst doch bitte wirklich nicht ein drittes Mal zur Wahl des Präsidenten anzutreten, was er auch artig zusagte. Gleichzeitig übergab er einige Beutekunst-Gegenstände, die noch aus dem Zweiten Weltkrieg stammten. Auch diese Geste zeigt symbolisch das Kräfteverhältnis in den aktuellen Beziehungen.

In den Verhandlungen mit der EU sind immer dieselben Punkte neuralgisch. So die Ostgrenze der Ukraine, über die sich laut EU zu viele illegale Migranten Richtung Westen bewegen. Weiter besteht die Befürchtung, wie der ukrainische Außenminister Kostjantyn Hryschtschenko auch zerknirscht zugab, dass ukrainische »Schwarzarbeiter« in Westeuropa bei einem liberalisierten Visa-Regime noch zahlreicher würden. Anzubieten haben die nach Westen drängenden Ukrainer aber auch zu Hause einiges. So lockt man mit Projekten wie der seit Jahren verhandelten Ölpipeline Odessa-Brody-Plock, beteiligt sich an der polnisch verwalteten Sicherheitszone im Irak und bemüht sich um möglichst enge und gute Kontakte zur Nato, mit der zusammen Schulungen in der Westukraine durchgeführt werden. Der neueste Vorschlag der Ukraine ist es, ein Koordinationszentrum für den Kampf gegen den Terrorismus im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zu schaffen.

Für die Anbindung an den Westen sind aber nach wie vor, und nach dem 1. Mai erst recht, die Kontakte zu Polen entscheidend. Ende März wurde ein »polnisches Jahr« in der Ukraine ausgerufen, in dessen Rahmen eine Vielzahl gemeinsamer Messen, Ausstellungen und Konzerte stattfinden sollen: »Polen und die Ukraine gemeinsam in Europa«. Das Motto entspringt jedoch dem Wunschdenken. In der Realität passiert das Gegenteil. Der Gartenzaun um das Haus Europa wird höher, und die Ukrainer müssen aufpassen, dahinter nicht vergessen zu werden.