Kontinents Verfassung

Mit einer Volksabstimmung über die europäische Verfassung setzt der britische Premierminister Tony Blair seine politische Zukunft aufs Spiel. Und die europäische Verfassung. von matthias becker, london

Wer ist dieser englische Abgeordnete, der in der Parlamentsdebatte dem Premierminister zusetzt? »Wenn es nun zu einem grundlegenden Wandel der Verfassung kommt, spricht natürlich alles für eine Volksabstimmung«, erklärt er. Es geht um das ewig neue Thema Europa, und es ist kein Konservativer, der sich für ein Referendum ausspricht, sondern ein junger Abgeordneter aus der englischen Provinz: Tony Blair. Wir schreiben das Jahr 1994, und Labour ist noch in der Opposition.

Das ist der Unterschied. Zehn Jahre später wehrt sich der mittlerweile als Premierminister amtierende Blair lange und heftig gegen die Forderung nach einem Referendum über die europäische Verfassung. Noch am 17. Oktober 2003 meinte er kurz und bündig: »Es wird kein Referendum geben!« Aber Blairs politische Karriere ist weniger von festen politischen Prinzipien als geschmeidigem Opportunismus geprägt, und so verkündete er nun vor zwei Wochen, natürlich werde das britische Volk befragt werden.

Politiker aller europäischen Länder reagierten entsetzt. Denn eine solche Abstimmung wird aller Voraussicht nach verloren werden. Mehrere Meinungsumfragen in der vergangenen Woche zeigen übereinstimmend, dass die Mehrheit die europäische Verfassung ablehnt. In einer von der Sonntagszeitung News of the World in Auftrag gegebenen Umfrage gaben nur knapp 16 Prozent der Befragten an, sie würden Großbritanniens Unterschrift unter die Verfassung unterstützen. 53 Prozent lehnten das ab, der Rest war sich noch unklar. Weil der Verfassungsentwurf aber nach dem Prinzip der Einstimmigkeit von allen Regierungen unterzeichnet werden muss, kann die britische Europaskepsis das Projekt zu Fall bringen.

Blairs Meinungsumschwung hat innenpolitische Gründe. Grundsätzlich überlässt er seinen politischen Gegnern kein Thema, sei es Einwanderung, Kriminalität oder eben die Angst vor einem »europäischen Superstaat«, wie die einflussreichen britischen Boulevardzeitungen das Projekt EU-Verfassung bezeichnen. Kein Tag vergeht, ohne dass Boulevardzeitungen neue Schreckensmeldungen über Korruption und Bürokratie in Brüssel veröffentlichen. Und der Premierminister fürchtet besonders die auflagenstärkste unter ihnen, Rupert Murdochs Sun. Die konservative Opposition wollte das Thema für den im nächsten Jahr anstehen Wahlkampf nutzen, und nichts fürchtet Blair mehr, als einen Wahlkampf gegen die Regenbogenpresse führen zu müssen. Weil sich die Verhandlungen in Brüssel noch bis Juni hinziehen werden, und der Entwurf danach vielfach übersetzt werden muss, kann das Referendum bis nach den nächsten Wahlen aufgeschoben werden. Mit dem Versprechen, das Volk zu befragen, kann die Regierung die unpopuläre Entscheidung umgehen. Möglicherweise wird ein Nein in einer Volksbefragungen in einem anderen Land das britische Referendum sogar überflüssig machen, so das Kalkül.

Gleichzeitig versuchen die Befürworter der Verfassung, die Abstimmung in eine über die EU überhaupt zu verwandeln. Entweder Mitglied in einer Union mit Verfassung oder der vollständige Rückzug aus dem gemeinsamen Markt, das sei die Alternative, behaupten sie. Nur eine Minderheit in der Bevölkerung will, dass Großbritannien ganz aus der EU austritt.

Die Beziehung der Briten zum so genannten europäischen Projekt war immer schon gespalten. Fährt der Engländer zum Einkaufen nach Frankreich oder in den Urlaub nach Spanien, sagt er, er wolle nach Europa. Europa findet auf dem Kontinent statt, die britische Insel ist anders. Aber das gespaltene Verhältnis zur EU hat letztlich mehr mit politischen und wirtschaftlichen Interessen als dem Ressentiment der Briten gegen Fremdeinfluss zu tun. Die wichtigste Arbeitgeberorganisation, die Confederation of British Industries, hat eine Kehrtwende vollzogen und lehnt im Gegensatz zu ihrer früheren Haltung eine weitere europäische Integration ab. Andere Arbeitgeberverbände aber befürworten langfristig sogar den Beitritt Großbritanniens zur gemeinsamen Währung und fürchten einen Rückschlag in dem anstehenden Referendum.

Die Haltung gegenüber Europa nach Kapitalfraktionen zu ordnen, ist schwierig, die Spaltung geht oft durch den Aufsichtsrat. Grundsätzlich sind Kleingewerbetreibende und kleine bis mittelständische Betriebe aus Angst vor der Konkurrenz eher dagegen, während die exportorientierte Großindustrie eher für eine weitere Integration plädiert. 57 Prozent des Außenhandels geht in die EU.

Kein Wunder, dass beispielsweise Ford, British Telecommunications, Kellogg’s oder Unilever die Kampagne für eine europäische Verfassung unterstützen wollen. Die Federation of Small Business dagegen spendet Geld für die Europagegner. Das in Großbritannien dominierende Finanzkapital – der so genannte Fire-Sektor (Finanzdienstleistungen, Versicherungen und Immobilien) – ist eher dagegen, weil er von der besonderen britischen Stellung als europäisches Land, das aber gleichzeitig eng an die USA angelehnt ist, besonders profitiert.

In dieser Situation, in der die herrschende Klasse nicht genau weiß, was sie will, gewinnt das populäre Ressentiment gegen Europa an Gewicht und wird bei der Volksabstimmung den Ausschlag geben. Zudem sieht der Zustand der französischen und der deutschen Wirtschaft, von der Insel aus betrachtet, nicht verlockend aus. Zwar sind die niedrige Arbeitslosigkeit und das für Europa beachtliche Wirtschaftswachstum Großbritanniens teuer erkauft mit minimalen Arbeiterrechten und Sozialleistungen und der längsten Wochenarbeitszeit. Dennoch findet sich das Argument, nur der Euro und die Europäische Zentralbank habe zur europäischen Wirtschaftsmisere geführt, häufig in der Boulevardpresse und kommt bei ihrer proletarischen Leserschaft gut an.

Auch rein politische Gründe bringen die britischen Eliten gegen die Verfassung auf. Sie hat zum Ziel, die Entscheidungsfindung in der erweiterten EU effektiver zu machen, vor allem aber durch einen gemeinsamen Präsidenten und Außenminister den weltpolitischen Einfluss zu vergrößern. Dazu gehört auch, den Aufbau einer europäischen Militärmacht voranzutreiben. Das kann nicht im Interesse Großbritanniens sein, das nur als engster Verbündeter der USA Weltpolitik betreiben kann. Gerade deshalb lehnt die britische Regierung alles ab, was den Einfluss der Nato untergraben könnte.

Die britischen Eliten haben keine klare Haltung zur Europäischen Union. Sie würden gerne die Vorteile beider der sich ausschließenden Positionen genießen, der beste Verbündete der USA und gleichzeitig eine entscheidende Stimme in der sich formierenden Weltmacht Europa sein.

Das wird auf Dauer nicht durchzuhalten sein. Premierminister Blair und seine Regierung spielen auf Zeit.