Freie Kunst

In Berlin kann man Klavierarbeiten der Kraut- und Freerock-Legende Conrad Schnitzler hören. von wolfgang seidel

Eine Geschichte, die Conrad Schnitzler gerne erzählt, ist die von Glenn Gould. Der gefeierte Klaviervirtuose sei enttäuscht von seinen eigenen Kompositionsversuchen gewesen, bei denen er sich immer dabei ertappte, in das Fahrwasser der eingeübten Figuren der großen Vorbilder zu rutschen. Ein Problem, das Schnitzler, der auf keine musikalische Ausbildung verweisen kann, nie hatte. Als er das Klavier für sich entdeckte, begann eine lange Forschungsreise durch die Welt der Klänge, bei der er seine eigenen Karten gezeichnet und einen eigenen Kompass entwickelt hat. Diese Odyssee begann Anfang der Fünfziger mit einer Lehre als Maschinenbauer. Das polyrhythmische Schaben, Kreischen und Hämmern in der Werkshalle lieferte die Initialzündung für die eigene Beschäftigung mit Musik. Der schönste Moment des Tages war dennoch das langsame Ersterben dieser Geräusche am Feierabend, wenn nacheinander die Maschinen ausgeschaltet wurden – als hätte ein Remixer virtuos die Mute-Tasten seines Mischpultes bedient.

Die zweite prägende Hörerfahrung Schnitzlers waren die wenigen damals existenten Radiosendungen, die Jazz und Avantgarde spielten. Diese liefen, um den Normalbürger nicht zu verschrecken, meist spät am Abend und ließen ahnen, dass es noch eine Welt da draußen gab, die anders war als der graue deutsche Nachkriegsalltag. Um diesem zu entfliehen, schipperte Conrad Schnitzler nach der Lehre sogar erst einmal mit einem Seelenverkäufer um Afrika herum. Die christliche Seefahrt war in den Fünfzigern neben der Fremdenlegion einer der wenigen Wege, der deutschen Nachkriegstristesse zu entkommen.

Die erste überlieferte Begegnung Schnitzlers mit dem Klavier war auf einem Happening seines Lehrers Joseph Beuys in der Akademie der Künste. Sie endete mit der Ausstellung der Überreste des Instrumentes in der Galerie Block. Bei Beuys hatte Schnitzler zu studieren angefangen, als dieser seine Klasse für alle öffnete, ohne den Studenten die üblichen Zeugnisse und Prüfungen abzuverlangen, woraufhin er bekannterweise prompt wegen dieses Verstoßes gegen die akademischen Regeln aus der Hochschule geschmissen wurde.

Allerdings blieben Schnitzler, der die Welt als Seemann und Arbeiter erfahren hatte, jede esoterisch aufgeladene Bedeutungshuberei und der Möchtegern-Schamanismus von Beuys völlig fremd. »Ich bin Handwerker. An einer Horizontalbohrmaschine ist nichts Heiliges. Da geht es darum: Was kann die, wie funktioniert die?« Mit dieser Einstellung ging er auch an die eigene Kunst heran. Fremd war ihm auch die »Kunst muss der Arbeiterklasse dienen«-Rhetorik der studentischen Linken. Seine Kunst diente dennoch einem Vertreter dieser zu befreiendem Klasse – ihm selber.

Anfang der Sechziger hatte es Conrad Schnitzler nach Berlin verschlagen, zum Sammelpunkt aller, die im Schaffe-Schaffe-Häusle-Baue-Deutschland keinen Platz hatten und die vom fehlenden Wehrdienst und der seit dem Mauerbau vom Bund alimentierten Geisterökonomie West-Berlins angezogen wurden. Schnitzler wechselte von der bildenden Kunst zur Musik. Seine erste Gruppe hieß programmatisch Geräusche. Geräusche – mehr stand auch nicht auf den Flyern – außer Zeit und Ort des Auftritts. Die weiteren Stationen Schnitzlers waren Tangerine Dream, Kluster (die späteren Cluster) und Eruption, bis er sich zurückzog und eine lange Solo-Laufbahn abseits aller Verwertungszwänge einschlug, die ihn zu einem der produktivsten Akteure der Elektronik-Szene werden ließ.

1969 gründete Conrad Schnitzler zusammen mit einigen Freunden das Zodiak, einen Club mit dem Untertitel »Free Arts Lab«. Hier trafen sich Free Jazz, Blues und Elektronik. Die Hausband und Nachfolger von Geräusche war Human Being, zu denen inzwischen unter anderen Boris Schaak, Hans-Joachim Roedelius und Dieter Moebius (beide später Cluster) gestoßen waren. Diedrich Diederichsen schreibt im Booklet der CD »M.N.D. – Westberliner Stadtmusik 1969«: »Die Band – Norbert Eisbrenner, Werner Goetz und Sven Ake Johansson – bewegte sich damals im Umfeld des Zodiak, einem Ort der für Berlin und die kommende deutsche elektronische Avantgarde – vor allem Cluster, Tangerine Dream und den unermüdlichen Conrad Schnitzler – dasselbe bedeutete wie das Ufo für die Welt der frühen Pink Floyd und Soft Machine.« Auch Holger Meins, Bommi Baumann, der durch seinen Schiss vor den Richtertisch berühmt gewordene Karl Pawla und die Umherschweifenden Haschrebellen zählten zu den Gästen des Zodiak, dieses seltsamen Ortes unter den Räumen der Schaubühne und schufen eine seit damals vielleicht nicht mehr erreichte Einheit von Kunst und Politik.

Wenn Diederichsen das zeitgleiche New Yorker Jazz Composers’ Orchestra mit u.a. Cecil Taylor als etwas beschreibt, »wo sich für kurze revolutionäre Momente die Linken, die Afrozentrischen und die Hipster des Free Jazz zusammenrotteten«, gilt das auch für die Szene um das Zodiak herum. Ihr Vorbild war jedoch weniger der Free Jazz als vielmehr Musik von Gruppen wie der britischen AMM oder Nuova Consonanza aus Italien. Was Schnitzler mit seiner Band im Zodiak erzeugte, war »Musik von Unbefugten.« Denn die wenigsten konnten ein Instrument spielen. Sie waren keine Musiker, aber Künstler. Viele der Akteure kamen aus der bildenden Kunst. Schnitzler selber, aber auch Markus Lüppertz, K.H. Hödicke und Bernd Zimmer.

Zum Proben traf man sich in der Stephanstraße in Berlin-Moabit im Parterre. Darüber wohnte die Kommune 1 und jeder, der zur Tür hereinschaute, egal ob er ein Instrument spielen konnte oder nicht, machte mit – was selbst den Free-Jazzern zu viel war. Auch für die Hippie-Bongo-Fraktion, die beim Smoke-In im Tiergarten mit der Band jammte und die Schnitzler ohnehin immer hasste, war das zu starker Tobak. Und während sich die meisten Elektroniker in sphärische Wohlklänge flüchteten, zeitweilig vermarktet als Musik der »Kosmischen Kuriere«, ist Schnitzlers Musik etwas, wo New Age-Fans eine Herzattacke riskieren. Dabei ist sie gleichzeitig auch weit entfernt von dem, was unter der Überschrift Noise dargereicht wird. Dafür ist zu viel Struktur in ihr.

Conrad Schnitzler ist ein intermedialer Künstler, der Erfahrungen und Arbeitsweisen von einem Medium auf ein anderes überträgt. Intermedia meint für ihn aber etwas anderes als Mixed-Media. Er trennt die Medien streng und versucht nicht, dem Verständnis seiner Musik durch optische Effekte entgegenzukommen. Selbst Titel für seine Musik hat er fallen gelassen, um dem Hörer nichts vorzugeben, was er mit der Musik zu assoziieren hätte. Er soll selber hören und entscheiden – weswegen eines von Schnitzlers Lieblingsprojekten »music in the dark« ist. Licht aus – da bleibt nur noch das Hören.

Was aber zieht jemanden wie Schnitzler zum Klavier? Nach den unendlichen klanglichen Möglichkeiten der Elektronik und der Befreiung von den zwölf Tönen der Oktave erscheint das Klavier erst einmal als eine Einschränkung. Die Herausforderung jedoch bestand darin, die in den langen Jahren des Arbeitens mit tonal völlig ungebundenen elektronischen Klängen gefundenen Ordnungsprinzipien auf ein Instrument zu übertragen, das, anders als z.B. das Saxofon mit seinen Artikulationsmöglichkeiten, klanglich festgelegt ist und als einzige Ausdrucksmöglichkeit die Beziehungen der Töne zueinander bietet. Das Werkzeug für dieses Forschungsprojekt ist ein Klavier, dessen Tasten von computergesteuerten Elektromagneten bewegt werden. Das setzt den Komponisten in die Lage, ohne Rücksicht auf die physischen Grenzen eines Pianisten aus Fleisch und Blut zu komponieren und macht ihn auch frei von einstudierten, gedrillten Bewegungsabläufen.

Vom 14.–21. Mai kann man Conrad Schnitzlers Klavier-Arbeiten in der Galerie Zero in Berlin hören.