Glänzende Visionen

Indiens Regierungspartei braucht den Hindu-Nationalismus. Im Wahlkampf verzichtet sie jedoch auf radikale Parolen. von peter brunnett

Premierminister Atal Bihari Vajpayee gibt sich optimistisch. »Ich bin nicht nervös«, erklärte er am vergangenen Mittwoch bei der Stimmabgabe in Lucknow. Die indischen Parlamentswahlen werden in vier Phasen abgehalten, erst Mitte Mai werden die Ergebnisse bekannt gegeben. Den Umfragen zufolge aber wird Vajpayees hindu-nationalistische BJP (Barathiya Janata Party) die parlamentarische Mehrheit verfehlen.

Nicht mit nationalreligiösen Parolen, sondern unter dem Slogan »India is Shining«, angereichert mit dem »feel-well factor«, den der populäre Premierministers und Freizeitpoet Vajpayee verbreitet, will man diesmal Stimmen gewinnen. Im Wahlmanifest heißt es: »Es ist eine Vision, unser heiliges Vaterland befreit zu sehen von der Geißel des Hungers, der Arbeitslosigkeit, der Angst und der Korruption.«

Deshalb wurde mit einer sehr aufwändigen Werbekampagne versucht, das Bild eines Landes zu vermitteln, in dem unter der weisen Führung der BJP die Armut beseitigt wird und in dem alle ihren Anteil am wachsenden Wohlstand haben oder haben werden. Tatsächlich galt die Regierungskoalition als Favoritin für die Wahlen, die positive wirtschaftliche Entwicklung sowie das entspannte Verhältnis zum pakistanischen Nachbarn sollen den Ausschlag gegeben haben.

Die wirtschaftliche Blianz der Regierung ist vergleichsweise gut. Mit einem Wachstum von acht Prozent hat Indien zu China aufgeschlossen, der Aktienindex der Börse von Bombay steht auf Rekordhöhe. Die Auslandsschulden sind jedoch mit 105 Miliarden US-Dollar recht groß, das Haushaltsdefizit beträgt zehn Prozent, obwohl Privatisierungserlöse verbucht wurden.

Diese Zahlen sagen wenig darüber aus, wie nachhaltig der Boom ist und wer von ihm profitiert. Die Wirtschaft befindet sich in einer Phase des Umbruchs, hervorgerufen durch die neoliberalen Reformen, die von der Kongresspartei 1992 begonnen wurden.

Die Regierung behauptet, pro Jahr 8,4 Millionen neue Jobs geschaffen zu haben. Neue Arbeitsplätze entstanden überwiegend im Bereich der Dienstleistungen, auch im IT-Sektor. Tatsächlich hat die Aussage »India is shining« eine Berechtigung für die städtische Mittelschicht, die auf etwa zehn Prozent der Bevölkerung geschätzt wird.

Das Bankenwesen wurde dereguliert, so dass private Konsumkredite leichter zu haben sind. Doch nach Angaben der Weltbank stagnierte der private Konsum im Jahr 2002, was ein Anzeichen dafür ist, dass der Zuwachs an Wohlstand nur einem kleinen Teil der Bevölkerung zugute kommt. Ein Teil des Wachstums wurde zudem über die internationalen Finanzmärkte finanziert. Eine ähnliche Situation führte bei den asiatischen »kleinen Tigern« zu einem jähen Ende des Booms.

Die neoliberalen Reformen gefährden den bisher durch hohe Zollsätze abgeschirmten industriellen Sektor, dessen Wachstum seit den neunziger Jahren stark zurückging. Ein großer Teil der Industrieinvestitionen der letzten Jahrzehnte wurde vom Staat getätigt, ganze Industriezweige, wie die Luft- und Raumfahrt, wurden auf diesem Wege aufgebaut.

Nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten arbeiten die meisten staatlichen Betriebe heute ineffizient. Es sind gerade die Verlust bringenden Betriebe, die derzeit geschlossen oder privatisiert werden sollen. Wie viele Arbeitsplätze das kosten wird, wagt niemand zu prognostizieren. V.J.K Nair, der Präsident eines Gewerkschaftsverbandes im boomenden Bundesstaat Karnataka, in dem auch Bangalore gelegen ist, beklagt die Schließung von 27 Großbetrieben allein in seinem Bundesstaat.

Der Slogan »India is shining« soll der BJP Wähler aus den städtischen Mittelschichten zuführen, die von der neoliberalen Umstrukturierung profitiert haben. Die BJP hat ihre Stammwählerschaft unter den Hindus oberer Kasten in den nördlichen Staaten des »Hindu Belt«. Sie kooperiert mit RSS und VHP (Hinduistischer Weltrat), die ebenfalls die nationalreligiöse Hindutva-Ideologie vertreten. Diese Schwesterorganisationen wurden mit Wohlfahrtsmaßnahmen und der Errichtung von Dorfschulen in besonders armen Regionen Nordindiens aktiv, um für die Kastenlosen (Dalits) und die Urbevölkerung (Adivasis) wählbar zu werden.

Außerhalb des Belt ist die BJP immer noch relativ schwach. Hier haftet ihr der Ruf einer Partei der oberen Kasten an, einer Partei zudem, welche die Koexistenz zwischen Kasten und Religionen gefährdet. Die hedonistischen Aufsteiger der new economy werden von hindu-nationalistischen Parolen abgeschreckt. Deshalb versuchte die BJP, diese Themen zu vermeiden.

In den achtziger Jahren erlebte die BJP dank der »Ram-Kampagne« ihres damaligen Vorsitzenden L.K. Advani einen rasanten Aufstieg. Im Dezember 1992 wurde die Moschee in Ayodyha zerstört, die VHP fordert, dass an ihrer Stelle ein Ram-Tempel gebaut wird. Premier Vajpayee gab im Verlauf des Wahlkampfes in vorsichtiger Weise seine Unterstützung dafür bekannt.

Die Proteste der Koalitionspartner zeigten, dass die BJP ihre Hindutva-Themen möglichst vermeiden muss, wenn sie nicht ein Auseinanderbrechen der Koalition riskieren will. Zu ihrer Regierungsallianz gehören z.B. die DMK, die nur in Tamil Nadu antritt und sich als säkular versteht und die Akali Dal im Punjab, die eine Partei der Sikhs ist. Bisher hat die BJP es verstanden, die nötige Balance zwischen Regionalparteien und –interessen und ihren Zielen zu wahren.

Zum Programm der BJP gehört es, dass sie sich auf allen staatlichen Ebenen um das Erziehungsressort und die Personalrekrutierung bemüht. In den Schulen werden Hindutva-Lehrer bevorzugt eingestellt, in die Lehrpläne wurden Hindutva-Themen aufgenommen. Auch bei neu eingestelltem Personal in Polizei und Paramilitärs wird immer mehr Wert auf die rechte Hindutva-Gesinnung gelegt. So entstand in Gujarat ein Polizeiapparat, der bei den Pogromen im Jahre 2002 passiv blieb, als der hindu-nationalistische Mob mordete und plünderte.

Der BJP-Flügel um Vajpayee gilt als gemäßigter Gegenpol zu den ideologischen Hardlinern des radikalen VHP, der die Formel »Ram Rajya« (Rams Reich) zur Grundlage der Politik machen möchte. Das würde die politische Stabilität Indiens gefährden, und ohne Kompromisse mit Säkularisten und Regionalparteien dürfte die BJP die notwendige Mehrheit für eine Regierungsbildung nicht erreichen können. Die Hindu-Nationalisten bleiben jedoch der stärkste politische Block, und die Parlamentswahlen werden der BJP voraussichtlich für weitere fünf Jahre die Möglichkeit bescheren, in ihren Machtbereichen die politische Kultur Indiens im Sinne der Hindutva-Ideologie zu verändern.