Familienkrach

Die Anti-Olympia-Demo in Leipzig provoziert die heile Welt der »one family«. Die Medien kommen mit der Realität nicht zurecht. von ivo bozic, leipzig
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Hallo! Habt ihr Lust, euch in die Menschenkette für Olympia einzureihen?« Die in blaue T-Shirts gekleideten Freiwilligen sprechen jeden an, der an ihnen vorbeiläuft. Meistens jedoch vergeblich. Es regnet an diesem Samstag in Leipzig in Strömen, und die »one family«, die sich für die Olympiabewerbung der sächsischen Messestadt stark machen will, bevorzugt offenbar einen Spaziergang durch die Ladenketten. 5 000 Menschen, so hat man ausgerechnet, sind nötig, um eine sieben Kilometer lange Menschenkette durch die Stadt zu bilden. Als sich um 15 Uhr die Kette schließen soll, stehen vor dem Rathaus gerade mal 60 Personen, darunter eine abkommandierte Schulklasse. Mit Hilfe von Jacken und Regenschirmen gelingt es ihnen gerade so, die Front des Rathauses abzudecken, links und rechts davon ist das nächste Glied der Menschenkette nicht einmal in Sichtweite.

Doch mit der Wahrheit nimmt man es in der Heldenstadt offenbar nicht so genau. »Die Kette war geschlossen«, verkündete Leipzigs Olympia-Planer Mike de Vries dreist gegenüber dem Mitteldeutschen Rundfunk (MDR). Und die Organisatoren behaupten: »Die Kette war zu 90 Prozent perfekt.« Die Leipziger Volkszeitung vertraut statt der eigenen Augen lieber den Presseerklärungen und übernimmt deren Darstellung: »Fast 5 000 Menschen bildeten laut Veranstalter eine sieben Kilometer lange Kette quer durch die Innenstadt.« Eine Behauptung, die auch der MDR trotz besseren Wissens multipliziert und mit geschickt ausgewählten Bildern des winzigen Menschenkettchens vorm Rathaus »belegt«. Die angeblich 95prozentige Zustimmung der Leipziger zur Olympiabewerbung erfordert eben eine gute Öffentlichkeitsarbeit. Da ziehen alle an einem Strang. Notfalls wird die eigene kleine Welt eben zurechtgebogen. Da kann man sich schon mal in die Zeiten vor den Montagsdemos zurückversetzt fühlen.

Gnadenloses Schönreden gehört zu einer Olympiabewerbung eben genauso dazu wie devote Höflichkeitsbesuche der Stadtprominenz in Lausanne. Die Gegenseite hat es zumindest an diesem Tag leichter. Allein die Tatsache, dass da ein paar junge Leute eine andere Sicht auf die Dinge haben, stellt so etwas wie Blasphemie dar. Und immerhin 800 bis 1 000 Menschen folgen einem Aufruf des Anti-Olympia-Komitees (AOK) zur ersten Demo gegen Olympia. Mit allen Mitteln haben Polizei und Lokalpolitiker versucht, die Demo in der Innenstadt zu verhindern. Auf der geplanten Demoroute meldeten sie Pro-Olympia-Veranstaltungen an, und die misslungene Menschenkette richtete sich explizit auch gegen die Demo. Das AOK bat schließlich die ehemalige Bundestagsabgeordnete Angela Marquardt, die Demonstration anzumelden, um weiteren Boykottversuchen zu begegnen. Schließlich gelang es, die Demo immerhin direkt am Rathaus in unmittelbarer Nachbarschaft zur versuchten Menschenkette starten zu lassen. Und die Anwältin das AOK erreichte mit einer Klage vor dem Oberverwaltungsgericht die Rücknahme von verschiedenen repressiven Auflagen.

Zur Demo sind trotz bundesweiter Mobilisierung nur wenige Nicht-Leipziger angereist. Aus Berlin so gut wie niemand. Dabei waren Anfang der neunziger Jahre tausende Berliner Linke aktiv gegen die hauptstädtische Olympiabewerbung für das Jahr 2000, und sogar erfolgreich. Doch die Unterstützung für die sächsischen Nachbarn ist ziemlich mager. Ob das daran liegt, dass die Anti-Olympia-Bewegung in Leipzig zumindest teilweise antideutsch geprägt ist? Dabei ist es den Vertretern der verschiedenen politischen Gruppen und Fraktionen in Leipzig gelungen, die unterschiedlichen Ansätze zu einer umfassenden Gesamtkritik an Olympia zu kombinieren und auf der Demonstration darzustellen. Olympia als nationales Projekt, als Sinnbild der kapitalistischen Leistungsgesellschaft, die deutsche Olympiageschichte vor dem Hintergrund der Nazi-Olympiade 1936, die drohende Säuberung und Gentrifizierung der Innenstadt, Mietpreisexplosion, ökologische Schäden, Stadtbaugigantismus, Überwachungsmaßnahmen, die Streichung von Sozialprojekten und das fehlende Geld für kleine Sportvereine – alles zusammen ergibt ein ziemlich vollständiges Bild der zahlreichen Gründe, die gegen Olympia sprechen.

Auf einem Transparent steht: »Klassenkampf statt Wettkampf der Nationen!« Auf einem anderen: »Nein zu Olympia und Überwachung!« Auf einem dritten: »Leipzig kaputt machen können wir auch ohne Olympia.« Auf einem Schild steht: »Olympia = Kommerz«. Und drei fröhliche Mädels haben sich den Schlachtruf »Olympia, du alte Scheiße« ausgedacht, den sie immer wieder zum Besten geben. Zu Störungen durch aufgebrachte Leipziger Bürger kommt es, vermutlich auch wegen des stundenlang andauernden starken Regens, an diesem Tag nicht. Auch die so genannte Menschenkette erweist sich als zu löchrig, um auch nur ansatzweise der Demo im Weg stehen zu können. Lediglich eine Gruppe rechter Burschenschaftler versucht zu Beginn, die Demonstranten zu provozieren, was auch gelingt und dazu führt, dass sich die schlagende Verbindung geschlagen geben und fluchtartig entfernen muss.

Insgesamt sind die Veranstalter am Ende zufrieden. Knapp 1 000 Teilnehmer sind für Leipzig im Dauerregen gar nicht schlecht, zumal im Gegensatz zu Berlin vor zehn Jahren auch PDS und Grüne bedingungslos hinter der Olympiabewerbung stehen. Auch wenn die Medien die Pro-Olympia-Stimmung weiterhin positiv zurechtlogen, an der bisher verschwiegenen Tatsache, dass es auch Gegner der Olympiabewerbung gibt, kommen seit dieser Demo nicht einmal der MDR und die Leipziger Volkszeitung vorbei. Zumal nach der Abschlusskundgebung noch einige hundert Aktivisten zum Pro-Olympia-Volksfest ziehen und kurzzeitig die Bühne stürmen. Sportlich kann man eben auch ohne Olympische Spiele sein.