in die presse

Der Eigentliche

Der Bodensee ist öde. Daher hatte Martin Walser Langeweile. Er musste also einen neuen Text schreiben. Eine Redaktion wollte ihn drucken, die des Magazins Cicero. Sie sagt, er schreibe »gegen alles Festgelegte, ein Text über die Macht des Tabus«. Gar das letzte aller Tabus, das Gehalt des Nachbarn? Nein, nein, der Text redet über »ich« und »wir«, also uns.

In dem Aufsatz, mit dem er in der Schule durchgefallen wäre und der den Titel »Die sechs Sätze der menschlichen Wärmelehre« trägt, geht es ums Verschweigen. »Man kann Menschen besser beurteilen nach dem, was sie verschweigen, als nach dem, was sie sagen. Das ist der 1. Hauptsatz der menschlichen Wärmelehre.« So sagt’s die Augenbraue der deutschen Dichtkunst. »Je farbloser ein Text, desto mehr hat er zu verbergen. Und was er zu verbergen hat, das zeigt er umso krasser, je mehr er es zu verbergen sucht.«

Der 2. Hauptsatz dieser nach Zustimmung heischenden »Wärmelehre«. Weiter plumpst es aus Walsern: »Mit allem, was ich sage, verschweige ich etwas. Und ich bin in dem, was ich verschweige, viel mehr enthalten als in dem, was ich sage.« Also ist noch viel mehr Walser in den hunderttausend Büchern, die er uns vorenthält? »Was Sie in dem von mir Gesagten als Verschwiegenes, als Geheimgehaltenes entdecken, erleben Sie als Ihre Entdeckungsleistung. Und was Sie da entdecken, das hat immer so viel von Ihnen selbst wie von mir.« Allerdings: »Ich weiß nicht warum, aber ich höre in jedem Bekenntnis hauptsächlich das, was der Bekennende durch das Bekennen verheimlichen will. Aus eigener Erfahrung: Solange ich am Bekennen bin, halte ich mich für einen Bekenner.« Man bekennt nicht mehr, man ist am Bekennen.

Das Eigentliche ist dem Walser so wichtig geworden, dass ihm das Uneigentliche, der Text, völlig schnurz ist. Sein schlägt Sagen. Das Eigentliche allerdings bleibt in Walser verschlossen, es kann nicht heraus. Doch es kratzt an der Tür. »Das Verschwiegene ist der Reichtum, für den lebenslänglich nach einer Währung gesucht wird. Aber das kennt ja jeder.«

Nö. Kennwa nich.

jörg sundermeier