Indien ohne Gandhi

Der Hindu-Nationalismus hat in Indien eine Wahlschlappe erlitten. Er könnte in noch radikalerer Form zurückkehren. von peter brunnett

Als in den frühen Morgenstunden des 13. Mai erste Ergebnisse der Wahlen zum Parlament der Indischen Union bekanntgegeben wurden und sich die Niederlage der regierenden BJP ankündigte, ging ein Seufzer der Erleichterung durch den säkularen Teil der politischen Kultur des Landes.

So meinte die Schriftstellerin Arundathy Roy, Indien sei von den sich kreuzenden Flutwelllen des Neoliberalismus und des Neofaschismus bedroht gewesen. Für den Publizisten Ram Puniyani ist das gemäßigte Image der BJP ohnehin nur Resultat eines gelungenen Täuschungsmanövers. Die gemäßigten und die militanten Hindu-Nationalisten hätten im Grunde das gleiche Ziel, würden es aber arbeitsteilig verfolgen. Das Ergebnis sei ein »schleichender Faschismus«.

Der angesehene ehemalige Premierminister V.P. Singh, der 1989/90 eine Anti-Kongress-Regierung anführte, rief zur Bildung einer breiten Allianz der linken und säkularen Kräfte unter Einschluss der Kongresspartei auf. Bisher bezog sich die politische Kultur Indiens direkt oder indirekt auf die Kongresspartei. In einer Allianz wäre sie nur eine Partei unter vielen. Der Sinn würde darin bestehen, »Ram Rajya«, das Reich Rams, das Ziel der Hindu-Nationalisten, zu bekämpfen.

Die Möglichkeit hierzu besteht: Die Wahlen erbrachten eine deutliche Mehrheit für die säkularen Parteien im Parlament (Lok Sabha). 273 Sitze sind für die absolute Mehrheit nötig. Die Kongresspartei hat 145, ihre Wahlallianz insgesamt 217. Die in der Left Front zusammengeschlossenen Linksparteien verfügen über 59 Sitze. Demgegenüber kommt die National Democratic Alliance (NDA) nur auf 185 Mandate, davon hält die BJP 138, sie verlor also mehr als 40 Mandate. Die meisten der unabhängigen Parteien werden sich nicht der NDA anschließen. Die Dalit-Partei BSP (Bahujan Samaj Party) gewann 19 Mandate; der unberechenbare Führungsstil von Miss Mayawati brachte die Partei in Uttar Pradesh zeitweise an die Seite der BJP. Die SP (Samajwadi Party) des derzeitigen Chief Minister von Uttar Pradesh, Mulayam Singh Yadav, die 36 Mandate gewann, ist eine sozialistische Partei, deren Wählerbasis vor allem aus Hindus und Moslems der niederen Kasten besteht.

Die treueste Bündispartei der BJP ist zweifelsohne die des Hitler-Bewunderers Bal Thackery, Shiv Shena. Sie verlor vier Mandate und kommt nur noch auf 12. Ihre Absicht, die Dalits als Wählerbasis zu gewinnen, schlug fehl.

Die einstige Regierungspartei Janata Dal hat sich nochmals gespalten. Der frühere Sozialist Fernandes führte seine Janata Dal (United) mit sieben Mandaten in das NDA-Lager. Dem gehört auch die Biju Janata Dal (11 Mandate) an. Demgegenüber schloss sich die Rashtriya Janata Dal (21 Mandate) der Kongress-Allianz an. Die unabhängige Janata Dal (Secular) kam auf vier Mandate.

Die tamilische DMK (Dravida Munnetra Kazhagam) fand doch noch ihren Weg in das Kongress-Lager und erreichte 16 Mandate, nachdem sie zuvor lange mit der BJP verbündet war. Ihre Rivalin, die AIADMK (All India Anna Diravida Munnetra Kazhagam) wechselte dafür zur NDA und ging leer aus, was eine kleine Sensation darstellt. Die Telugu Desam Partei, die in Andhra Pradesh aktiv ist, gehört zum NDA-Lager (5 Mandate). Die mit dem Kongress verbündete Telanaga Rashtra Samithi (TRS), die für einen selbstständigen Tamilenstaat eintritt, erhielt 5 Sitze. Die Akali Dal, die zur NDA gehörige Partei der Sikhs, kam auf 8 Sitze. Daneben existieren noch eine Reihe von Kleinstparteien, nur wenige davon kommen über ein oder zwei Mandate hinaus. Den Regionalparteien gemeinsam ist ein begrenztes Interesse an der Unionspolitik. Dies macht sie zu unzuverlässigen Koalitionspartnern.

Diese komplizierte Verteilung der Mandate und Interessen macht die Regierungsbildung zu einem schwierigen Balanceakt, jedenfalls für die Kongresspartei. Seit den siebziger Jahren kam sie mehr und mehr in den Ruf, nicht mehr für Inhalte, sondern nur noch für Korruption und Nepotismus zu stehen. Gleichzeitig regierten die Premiermister Indira und Rajiv Gandhi mit der »President’s Rule« mehr und mehr direkt in die Belange der Bundesstaaten hinein. Seit dieser Zeit entwickelten sich die Janata Dal bzw. die meisten Regionalparteien. Aus der alten Feindschaft zum Kongress erklärt sich auch, dass sich viele dieser Parteien nicht der Allianz anschließen wollten.

Dass die Kongresspartei, wenn nicht von einer anderen Politik, so doch von einem anderen Führungsstil geprägt wird, zeigt der Prozess der Regierungsbildung: Sonia Gandhi zog ihre Kandidatur als Premierministerin mit Verweis auf ihre italienische Herkunft zurück. Die Partei hat damit an politischer Integrationsfähigkeit gewonnen und den Hindu-Nationalisten ein »Blut-und-Boden«-Argument entzogen, ohne an Handlungsfähigkeit einzubüßen. Auch die Nominierung von Manmohan Singh setzt ein Signal: Noch nie wurde ein Angehöriger einer Minderheit Premierminister, Singh aber gehört den Sikhs an. Der 71jährige Wirtschaftsprofessor, der u.a. an der Delhi und der Jawaharlal Nehru University lehrte, bevor er für die Regierung tätig und Anfang der neunziger Jahre Wirtschaftsminister wurde, war Architekt des wirtschaftlichen Umbaus.

Der neue Premier hat offenbar auch die Botschaft des Wahlvolkes verstanden. Die Armutsbekämpfung werde in der Wirtschaftspolitik Priorität haben, kündigte er an. Die Kongresspartei hatte in ihrem Wahlprogramm eine Fortsetzung des Reformprozesses versprochen, will aber die Politik der Privatisierung differenzierter umsetzen. So sollten profitable Industrien und die Infrastruktur (Wasser, Elektrizität usw.) ausgenommen werden. India Shining war dagegen an der Bevölkerung weitgehend vorbeigegangen. Wenn der wirtschaftspolitische Balanceakt nicht gelingt, dann kann die sehr fragile Allianz leicht zerbrechen. Dass er überhaupt gelingt, dafür ist ein BSP-Wachstum von sechs bis acht Prozent pro Jahr erforderlich. Für die Kommunisten ist allerdings auch ein sozial abgefederter Neoliberalismus kaum mitzutragen.

Der zweite Teil des Wählermandates – darin stimmen fast alle Beobachter überein – ist die Absage an den Hindu-Nationalismus. Die städtische Mittelschicht hat nicht die BJP gewählt, die Minderheiten wählten nahezu geschlossen gegen die NDA. Der Hindu-Nationalismus hat Wählerstimmen und Mandate verloren.

Er wird sich nach der Niederlage neu formieren. Der BJP steht ein Generationswechsel bevor. Für die militante Hindu-Organisation VHP (Vishwa Hindu Parishad) war die BJP zu gemäßigt.

Die Hindutva-Mutterorganisation RSS (Rahstriya Samaksevak Sangh) führte die Niederlage darauf zurück, daß die BJP die Hindutva-Ideologie »verwässert« habe. Beides deutet auf eine Radikalisierung.