Katastrophale Normalität

Das Genre Katastrophenfilm wirbt traditionell für die Grundpfeiler des Systems. von andreas reimann

Bolzen schießen aus der Schiffswand, Fische schwimmen am Fenster vorbei, eine Tragfläche fliegt alleine weiter, der Terrorist lacht sich ins Fäustchen, in der U-Bahn fließt die Lava. Wir sind in einem Katastrophenfilm.

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 schien es eine Zeit lang so, als hätte der Katastrophenfilm seine Unschuld verloren. Was die Filmwelt über Jahrzehnte mit kindlicher Lust in Bilder gefasst hatte, war Realität geworden. Nun konnte sich die Schaulust den opulent ausgemalten Fluten, Feuersbrünsten und Explosionen nicht mehr ungeniert hingeben, wurden sie doch von den realen Bildern der Anschläge überlagert. Die Gewissheit, dass jederzeit jemand die perfide Realisierung dessen planen kann, was man gerade als Leinwandspektakel genießt, ist gleichwohl simpel wie verstörend.

Emmerichs aktueller Ökothriller macht sich diese verlorene Unschuld der Spektakelbilder nach 9/11 zunutze. Die Bilder vom hausgemachten Kältetod der Nordhalbkugel sollen eine ignorante Politik treffen und Überzeugungsarbeit leisten: Seht euch diese Bilder (New York!) an und sorgt dafür, dass es diesmal nur Bilder bleiben.

Die mahnende Geste ist so manchem der Desasterfilme eigen, gerade wenn das System selbst die Katastrophe zu verantworten hat. Da jede Katastrophe das Vertrauen der Menschen in die bestehende Ordnung erschüttert, stellt jeder Katastrophenfilm in gewisser Weise auch die Systemfrage. Wird sich das Vertrauen angesichts der Katastrophe als berechtigt erweisen? Oder ist das System selbst die Katastrophe?

In der Bibel oder bei Dante wurde Gericht gehalten über die historische Welt, die Urteile wurden aber in ahistorisch mythische Bilder von Plagen, Fluten und Weltenbrand gefasst. Katastrophenfilme hingegen richten sich selten explizit gegen die herrschende Ordnung. Als katastrophal erscheint das System immerhin noch vage bei Ökothrillern, die die Frage nach der Zerstörung der Lebensgrundlagen stellen. Bilder für die gewalttätige Zerrüttung von Staat und Gesellschaft finden sich dagegen eher im Horrorgenre. Und so mag es kein Zufall sein, dass einer der kritischeren Katastrophenfilme von dem Zombieregisseur George A. Romero stammt, in dessen »The Crazies« (1973) die Armee die infizierten Bewohner einer Kleinstadt bekämpft, weil in deren Nähe ein Militärflugzeug mit einem bakteriologischen Kampfstoff an Bord abgestürzt ist. Gerade das Thema bedrohlicher, unsichtbarer Viren führte zu einigen interessanten filmischen Auseinandersetzungen mit dem Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Gewalt.

In der Regel muss die Welt aber vor bizarren Feinden geschützt werden und nicht vor der Katastrophe der Normalität: Profitgierige Akteure, die am Bau pfuschen, radebrechende Terroristen aus Regionen wie Tschetschenien oder Mittelamerika, aber auch verrückte Wissenschaftler und Militärs, deren Wahn gerade darin besteht, ihren Job allzu blindwütig machen zu wollen. Und dann noch die Plagen von außen: Killerbienenschwärme, Vögel, Riesenpolypen, Aliens. Und die moderne Technik, die sich maßlos und gigantomanisch gibt. In den siebziger Jahren hatte das Genre seinen größten Boom, machte sich zwischenzeitlich von den mythischen Motiven der Weltenbrände und Plagen frei und konzentrierte sich auf die Dinge der modernen Welt.

Gestorben wird viel im Katastrophenfilm. Es trifft bevorzugt Feiglinge und Ignoranten, Opportunisten und Befehlsempfänger, die besonders aufwändig von Gesteinsbrocken zertrümmert oder von Monstern verspeist werden. Da ihr Tod auf höhere Gewalt zurückgeht, kann man unverhohlen die »Gerechtigkeit« am Werk sehen. Das saubere Personal der Profitgangster und Versicherungsagenten erhält in der großen Reinigung der Katastrophe einen besonders schmutzigen und hämischen Tod, verkörpert es doch das Abstrakte, das »raffende Kapital«, dem in dieser immer auch latent antisemitischen Personalisierung die Tatmenschen gegenüberstehen, die Kinder retten.

Das Genre gehört durchaus den »kleinen« Leuten, den Alltagshelden. In den vergangenen Jahren traten nicht nur Experten gegen das Unglück an, sondern auch – meist männliche – rüpelhafte Säufer und Malocher, ausgestattet mit der nötigen Willenskraft, die, wie es die bürgerliche Dramaturgie verlangt, sich zu vollwertigen Subjekten entwickeln dürfen.

Dass im Angesicht der Katastrophe die Masken fallen und die Menschen ihr wahres Gesicht zeigen, gehört zur Moral des Genres. Apokalypse bedeutet ja nichts anderes als Offenbarung, sie zeigt das wahre Wesen. Die Guten scheiden sich von den Bösen, das Innere kehrt sich nach außen. Die Schranken des Zivilisatorischen fallen, Tatkraft und Entschlossenheit haben ihre Stunde. Leute, die ihr ganzes Leben lang nichts auf die Reihe bekommen haben, weil eine dekadente Einstellung und Pech in der Liebe hinderlich waren, tun nun endlich etwas Wertvolles. Und die Reue ermöglicht dem Helden am Ende den Blick auf das eigentlich Wichtige. So fehlt es in keinem Film an Lebensbeichten, Liebestoden, Hochzeiten und Familienzusammenführungen.

Die Nation wird in der Stunde der Bewährung selten vergessen, Underdog und strammer Militär treten dem Ungemach gemeinsam entgegen. Einige Filme inszenieren das Sentiment direkt in nationaler Symbolik. In Emmerichs »Independence Day« (1996) wird das auf die Spitze getrieben, wenn der amerikanische Unabhängigkeitstag zum Symbol einer (US-amerikanischen) Wiedergeburt der Weltgemeinschaft wird, die an diesem Tag die Aliens zurückgeschlagen hat.

In der Stunde der Rettung gibt es keine Privilegien. Auf den Trümmern der sozialen und ökonomischen Ordnung reicht man sich die Hände. Immer wieder sieht man solche Szenen schichten- und klassenübergreifender Caritas, während die kriminelle und militärische Gewalt im Ausnahmezustand außer in den Filmen Romeros nur selten zu sehen ist.

Am schönsten ist der Ausnahmezustand im Kino aber als satirisches Zerrbild, zum Beispiel in Stanley Kubricks »Dr. Seltsam« (1963), der konsequent ohne Melodram und Moral im Weltuntergang endet. Anstatt tatkräftiger Subjekte sehen wir nur dummdreiste Vollstrecker im grotesk ablaufenden Uhrwerk der atomaren Katastrophe.

Eine Gesellschaft, deren Produktionsweise arbeitsteilig ist und die für den Einzelnen unübersichtlich und nicht beherrschbar erscheint, kalkuliert Katastrophen als technologisches und soziales Labor ein. So werden Sicherheitsstandards in schöner Regelmäßigkeit nach Katastrophen reformiert. Im Kino kehrt die Übersichtlichkeit zurück. Zwar bezieht sich der Katastrophenfilm auf die Angst, man könne selbst einmal betroffen sein, gerät aber fast immer zum unermüdlichen Werbefilm für die Grundpfeiler, auf die sich das System stützt: Familie und Reproduktion sowie bürgerliche Individualität und Eigenverantwortung.