Tunnelkrieg in Gaza

Die Militäroperation im Gazastreifen wird auch in Israel kritisiert. Und für den geplanten Rückzug findet Ariel Sharon keine Mehrheit in seinem Kabinett. von andré anchuelo

Früher dauerte es etwa fünf Monate, einen Tunnel vom Gazastreifen nach Ägypten zu graben. Seit die israelische Armee (IDF) durch die Zerstörung von Häusern im Grenzgebiet die Schmuggler zwang, längere Tunnel zu graben, dauert es ein Jahr. Doch da für eine Gewehrpatrone umgerechnet fast fünf Euro bezahlt werden, bleibt der Schmuggel in dieser Region ein lohnendes Geschäft.

Bei der »Operation Regenbogen« der IDF, die Anfang der vergangenen Woche vorläufig beendet wurde, ging es nach offiziellen Angaben vor allem um die Unterbindung des Schmuggels von Waffen aus Ägypten in den Gazastreifen. Seit Beginn der al-Aqsa-Intifada im September 2000 habe man insgesamt etwa 90 dieser Tunnel entdeckt und zerstört, so die IDF. Aus Geheimdienstkreisen hieß es, dass mit der jüngsten Aktion das Einschmuggeln von Katjusha-Raketen verhindert werden sollte, die auf der ägyptischen Seite bereit gestanden hätten.

Solche Raketen in der Hand palästinensischer Terrororganisationen würden in der Tat eine große Gefahr für die Bewohner israelischer Großstädte nahe des Gazastreifens bedeuten, denn sie sind wesentlich zielgenauer als die bisher verwendeten Qassam-Raketen aus der Eigenproduktion der Hamas. Dennoch wurde die »Operation Regenbogen« in Israel heftig kritisiert, und noch immer ist nicht vollständig klar, was genau im südlichen Gazastreifen geschehen ist.

Die offizielle israelische Bilanz spricht von drei entdeckten Tunneln, 56 zerstörten Gebäuden, demolierten Straßen, der Verhaftung von zehn bewaffneten Terroristen und 54 getöteten Palästinensern. Von diesen seien 40 bewaffnete Kämpfer gewesen, während es sich bei vierzehn der Getöteten um Zivilisten gehandelt habe, von denen mindestens zwei von Palästinensern erschossen worden seien. Im übrigen habe man sich zwar aus der Stadt Rafah, in der der größte Teil der Kämpfe stattfand, zurückgezogen, der Einsatz sei aber noch nicht abgeschlossen, weil es noch nicht gelungen sei, »alle Wege des Waffenschmuggels in den Gazastreifen zu blockieren«.

Allerdings ist fraglich, ob sich die israelische Regierung eine Fortsetzung der »Operation Regenbogen« in dieser Form leisten kann. Denn schon jetzt ist der Imageschaden für Israel enorm. Besonders die Ereignisse auf einer Demonstration zu Beginn des israelischen Einmarsches in Rafah vor zwei Wochen sorgten für Empörung.

Etwa 3 000 Palästinenser näherten sich israelischen Stellungen. Um den Zug zu stoppen, feuerte die IDF Warnschüsse ab, auch aus einem Kampfhubschrauber. Als die Demonstration trotzdem weiter voranzog, wurden mehrere Palästinenser von israelischem Feuer getroffen. In ersten Meldungen hieß es, der Hubschrauber habe vier Raketen auf die Menschenmenge abgeschossen, deshalb habe es Dutzende Tote gegeben, darunter »viele Kinder«. Zudem seien Hunderte Häuser zerstört worden.

Der Vorsitzende der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), Yassir Arafat, sprach von einem »Kriegsverbrechen« und von »Völkermord«. Der amtierende Sprecher der EU-Ratspräsidentschaft, Irlands Außenminister Brian Cowen, nannte die Aktion »völlig unangemessen«, die IDF habe »rücksichtslose Missachtung menschlichen Lebens« bewiesen. Selbst die USA als engste Verbündete Israels kritisierten dieses Vorgehen. Erstmals seit knapp zwei Jahren legten die Amerikaner auch kein Veto ein, als im UN-Sicherheitsrat eine Resolution zur Verurteilung der israelischen Aktionen verabschiedet wurde.

Israelische Angaben, wonach die Truppen nicht gezielt auf Zivilisten geschossen und auch keine Raketen auf die Menschenmenge abgefeuert haben, kamen spät. Der Demonstrationszug war von der PA offenbar bewusst in das umkämpfte Gebiet gelotst worden. Unter die Teilnehmer hatten sich vermutlich auch bewaffnete Kämpfer gemischt, die Schüsse auf die israelischen Posten abgaben. Als der Zug den israelischen Soldaten bedrohlich nahe rückte, bekam die Besatzung eines Panzers den Befehl, mit Granaten weitere Warnschüsse auf ein leeres Gebäude abzugeben. Vermutlich von diesen Schüssen wurden Demonstranten getroffen, die hinter dem Haus standen. Ob dabei mehr als vier Palästinenser – wie von der IDF eingeräumt – ums Leben kamen, ist unklar.

Obwohl es sich wahrscheinlich nicht um einen absichtlichen Beschuss von Zivilisten gehandelt hat, wurde das Vorgehen der IDF auch von israelischen Konservativen kritisiert. Panzergranaten seien zu ungenaue Waffen, um sie in dicht besiedeltem Gebiet einzusetzen, hieß es aus Militärkreisen. Der Sicherheitsexperte Yossi Alpher, ein früherer Berater des ehemaligen Premierministers Ehud Barak, stellte gleich den Sinn der gesamten Aktion in Frage: »Es gibt im globalen Medienzeitalter einfach keinen Weg, in eine feindliche und dicht besiedelte Stadt von 150 000 Einwohnern einzumarschieren und es gut aussehen zu lassen.«

Auch wie viele Häuser wirklich zerstört wurden, ist ungeklärt. Hier spielte die israelische Informationspolitik der palästinensischen in die Hände. Denn erst als die zunächst angegebene Zahl von fünf demolierten Häusern nicht mehr zu halten war, räumte man zwölf und schließlich 56 zerstörte Gebäude ein.

Zudem sind bereits Überlegungen für umfangreiche Abrissplanungen an die Öffentlichkeit gelangt. Demnach soll die Pufferzone zwischen dem Gazastreifen und Ägypten, unter der die Schmuggeltunnel verlaufen, erheblich verbreitert werden. Je nach Plan könnten dem bis zu 2000 palästinensische Häuser zum Opfer fallen. Trotz möglicher finanzieller Kompensationen für die Hausbesitzer würde die Verwirklichung eines derartigen Vorhabens selbst in Washington großen Unmut auslösen.

Dort ist man ohnehin verärgert über Israels Premier Ariel Sharon und sein Kabinett. Schließlich hatte die US-Regierung Sharon bei der innenpolitischen Durchsetzung seines Gaza-Rückzugsplans erheblich unterstützt, indem sie das »Rückkehrrecht« für palästinensische Flüchtlinge und deren Nachkommen als unrealistisch und gleichzeitig die israelische Annexion größerer Siedlungen in der Westbank als akzeptabel bezeichnete. Darauf folgte die Ablehnung des Rückzugsplans in einem Referendum der Likud-Partei Sharons. Da Sharon nunmehr versucht, den Plan in leicht veränderter Form weiter zu verfolgen, steht seine Koalition auf der Kippe.

Schwächt er den Plan weiter ab, wird ihm möglicherweise sein liberaler Koalitionspartner Shinui von der Fahne gehen. Die USA würden keine weitere Verwässerung akzeptieren, so das Argument der Shinui-Partei. Umgekehrt droht Israels Premier beim Festhalten an der Räumung aller Siedlungen im Gazastreifen nicht nur der Ausstieg der beiden ultrarechten Parteien aus der Regierungskoalition, sondern auch Widerstand aus seiner eigenen Likud-Partei. Angeführt vom ehemaligen Regierungschef Benyamin Netanjahu, verweist diese Strömung auf den Willen der Parteibasis.

Da Sharon im Moment in seinem Kabinett nicht mit einer Mehrheit für die aktuelle Fassung seines Gazaplans rechnen kann, verschob er die ursprünglich für vergangenen Sonntag vorgesehene Abstimmung. Offenbar hofft er, einige Minister doch noch überzeugen zu können. Für den Fall, dass ihm das nicht gelingen sollte, kündigte Sharon »Änderungen in der Zusammensetzung der Regierung« an.