Lonely Norway

In Norwegen wird die Preispolitik wegen der Konkurrenz aus den skandinavischen Nachbarländern zunehmend der EU angepasst. Ein Wegbereiter dafür ist die deutsche Handelskette Lidl. von elke wittich

Auf den ersten Blick musste man in den letzten Jahren den Eindruck haben, dass die EU für Norweger im Grunde nur aus der Frage bestand: »Wie hältst du’s mit dem Alkohol?« Bier-, Schnaps-, und Weintrinker sahen in einem Beitritt die einzige Chance, irgendwann ihren Rausch günstig im Supermarkt erstehen zu können, während christlich-fundamentalistische Abstinenzler eine Art dauertrunkene Vorhölle prophezeiten. Die große Befürchtung der meisten norwegischen Politiker lautete dagegen, die Brüsseler Bürokraten würden ihnen das Verbieten verbieten. Nicht ganz zu Unrecht: Staatlich importierte Alkoholika ausschließlich zu staatlich festgesetzten Preisen in staatlich geführten Läden anzubieten, gehört definitiv nicht zu dem, was in der EU unter freiem Wettbewerb verstanden wird.

Aber auch ohne Beitritt passt sich Norwegen mittlerweile zunehmend der EU an. Die Nachbarn Schweden und Finnland geraten wegen ihrer Alkoholpolitik schließlich unter Dauerdruck.

Am 1. März kürzte gerade erst die finnische Regierung die Alkoholsteuern um 33 Prozent. Eine Flasche Wodka kostet seither z.B. umgerechnet nur noch knapp 18 Euro.

Die norwegische Botschaft in Finnland unterrichtete das Sozialministerium umgehend über »die negativen Konsequenzen liberaler Alkoholpolitik«: Der Schnapsverkauf stieg in Finnland in der ersten Märzwoche demnach im Vergleich zum Vorjahr um fast die Hälfte an, es gab 500 Trunkenheitsfahrten mehr, die Anzahl der Gewaltdelikte stieg um 20 Prozent.

Der norwegische Sozialminister Ingjerd Schous reagierte jedoch gelassen auf die diplomatische Horrormeldung und betonte, die Regierung denke weiterhin ebenfalls über Preissenkungen nach: »Die Zeit, die wir mit einem deutlich höheren Preisniveau leben können als unsere Nachbarländer, ist einfach begrenzt. Es gibt einen Dominoeffekt, wonach unsere Nachbarländer nach und nach ihre Preise senken müssen, da die Einfuhrquoten innerhalb der EU-Länder fast unbegrenzt sind.« Die bisherigen traditionellen politischen Mittel der Alkoholpolitik wie hohe Preise und begrenzte Zugänglichkeit würden dadurch immer wirkungsloser.

Schous weiß zudem sehr wohl, dass es schon lange nicht mehr nur um Alkohol geht: »Die Dänen kaufen ihre billigen Waren in Deutschland, während die Schweden zu ihren dänischen oder finnischen Nachbarn fahren. Die Finnen reisen nach Estland und die Norweger zum Svinesund.«

Preisbewussten Norwegern gilt der westschwedische Svinesund als Handelszentrum, riesige Supermärkte und ein staatlicher Alkoholladen entstanden gleich hinter der Grenze.

Die Kunden fahren oft mehrere hundert Kilometer, um dort preisgünstig einzukaufen.

Selbst die norwegischen Handelsketten haben der schwedischen Billigkonkurrenz kaum etwas entgegenzusetzen. Im Sommer wird zudem das deutsche Unternehmen Lidl, das bereits 200 Filialien in Dänemark betreibt, erste Filialen im Land eröffnen. Sie arbeiteten zwar erst nach gut zehn Jahren profitabel, aber weil Lidl langfristig mit Verlusten plant, erwarten Experten einen unmittelbar einsetzenden Preiskrieg. Und einen schleichenden Abbau der Arbeitnehmerrechte, auf die man in Norwegen jahrzehntelang so stolz war.

Denn Lidl versuchte zunächst, in Deutschland gängige Arbeitsverträge auch in Norwegen durchzusetzen. Ein potenzieller norwegischer Lidl-Mitarbeiter, der sich für einen Arbeitsplatz als Distriktchef beworben hatte, erklärte im Jahr 2003 in einem Interview mit der Boulevardzeitung Dagbladet: »Mir wurde gesagt, dass ich ungefähr 60 bis 65 Stunden pro Woche arbeiten müsste, um den Job zufriedenstellend erledigen zu können. Aber als mir nach dem Bewerbungsgespräch tatsächlich ein Arbeitsplatz angeboten wurde, dachte ich nur: Nein! Stop! Die lausige Bezahlung, die unglaublich langen Arbeitszeiten und dann auch noch eine Ausbildungszeit von sieben Monaten in Deutschland reizten mich einfach nicht.«

Von den leitenden Angestellten werde schließlich erwartet, während der gesamten Öffnungszeit, also von 7.30 Uhr bis 21.30 Uhr anwesend zu sein. »Lidl will wohl auch deswegen am liebsten nur Leute verpflichten, die keine Familie haben!« Und nur dem Unternehmen genehme Bekannte: »Soziale Kontakte außerhalb der Arbeitszeit sind streng verboten. Sich nach dem Job noch auf ein Bier zusammenzusetzen, gilt als extrem verpönt. Mir wurde knallhart gesagt, neue Freunde bei Lidl zu finden, könne ich sofort vergessen.«

Wenn Lidl herausfindet, dass zwei Angestellte sich ineinander verliebt haben, würde beiden gekündigt, erklärte der Mann weiter. Der Konzern habe wohl Angst, dass freundschaftliche Kontakte die umfangreichen Kontrollanforderungen an die Chefs aufweichen könnten.

»Zu meinen Arbeitsaufgaben sollte es gehören, mich morgens ganz früh in den Büschen vor einer Filiale zu verstecken und zu beobachten, ob vielleicht Angestellte heimlich Waren in ihre Autos schaffen. Dann sollte ich den Laden betreten und nachschauen, ob der Filialleiter womöglich die Einstellung am Tresor geändert hat. Nach vielen weiteren Kontrollen hätte mein Arbeitstag wieder dort geendet, wo er begann: in den Büschen, um Angestellte auszuspionieren«

Ein Mitarbeiter des Dagbladet nahm daraufhin an einer Lidl-Anwerbeveranstaltung für Studenten der Osloer Wirtschaftshochschule teil. Unverblümt erklärte ein Firmenvertreter: »Auf Sie wartet viel Arbeit. Dies ist eine deutsche Firma, Kreativität wird nicht belohnt, um es einmal so auszudrücken. Es gibt sehr strenge Vorschriften, wer die einhält, wird allerdings belohnt.«

Der norwegische Gewerkschaftsbund überprüfte schließlich die vorgesehenen Arbeitsverträge und fand gleich drei Hauptpunkte, die mit geltendem Recht nicht übereinstimmten: Die Filiale, in der sie tätig sein würden, wurde in den Papieren nicht als Arbeitsplatz genannt, statt dessen hieß es, die Arbeitnehmer könnten in einer bis zu 100 Kilometer entfernten Niederlassung eingesetzt werden. Außerdem wurde von den in Führungspositionen Beschäftigten verlangt, dass sie während der gesamten Öffnungszeit, also mindestens 14 Stunden täglich, erreichbar sein müssten. Bezahlte Überstunden kamen jedoch in keinem vorgesehenen Vertrag vor. Zudem gab es Unstimmigkeiten über die Krankenkassenbeiträge.

Im Februar 2004 gab Lidl dem Druck der Gewerkschaften schließlich nach – einige Bezirksverwaltungen hatten angekündigt, dem Unternehmen auf keinen Fall die Ansiedlung zu erlauben –, räumte den Beschäftigten das Recht auf Betriebsratswahlen ein und reduzierte die möglichen Einsatzorte der Beschäftigten auf Filialen in einem Umkreis von nur noch 50 Kilometern.

Kein Grund jedoch zum gewerkschaftlichen Aufatmen. Eine weitere für ihre rigide Personalpolitik berüchtigte deutsche Handelskette plant angeblich bereits norwegische Niederlassungen: Rema 1 000, die größte Supermarkt-kette des Landes, bekam vor kurzem Besuch von Aldi-Mitarbeitern, die das Warenangebot ebenso untersuchten wie die Preisgestaltung.

»Die nordischen Märkte sind für ausländische Lebensmittelketten sehr interessant«, erklärte Carsten Færge vom Retail Institute Scandinavia kürzlich der Financial Times.

Eine bloße Frage des Alkohols ist die EU schließlich schon lange nicht mehr.