Armut geht online

Kann das Internet das Wirtschaftswachstum in Entwicklungsländern fördern? von annette kaiser

Bauer Haresh Devrajan aus Indien hat für sich einen Weg aus der Armut gefunden. Wenn er einen guten Preis für seine Sojabohnen erzielen will oder wissen möchte, wo er am günstigsten Düngemittel einkauft, geht er ins Internet-Café um die Ecke und surft durchs Web. Dort kann Haresh den aktuellen Marktwert prüfen, Preise für Düngemittel vergleichen und seine Produkte gleich im Netz anbieten – ohne Zwischenhändler. Ein neues Geschäftsmodell: Früher hatten die meisten Farmer in Indien keinen Zugang zu Marktinformationen und waren deshalb gezwungen, ihre Produkte an einen Mittelsmann zu verkaufen. Der zahlte ihnen gerade mal 20 Prozent des realen Warenwertes. Die Folge: Die Bauern verdienten so wenig, dass sie immer am Rande des Existenzminimums ums Überleben kämpfen mussten.

Direkter Zugang lokaler Produzenten zu Marktinformationen durch Internet-Kioske ist die erfolgreiche Idee des größten indischen Software-Dienstleisters ITC. Seit ihrem Start im Jahr 2000 hat die Firma in zirka 3 000 Dörfern Internet-Kioske errichtet. Inzwischen erreicht ITC etwa eine Million Farmer. Dabei sind die »E-Choupals« nur eine von vielen Initiativen, die bei einer internationalen Konferenz der Weltbank in Shanghai vorgestellt wurden. Unter dem Motto »Armut verringern – Wachstum fördern« tauschten Ende Mai etwa 1 000 Experten und 80 Politiker anhand von vorgestellten Projekten aus mehr als 100 Ländern Erfahrungen und Methoden aus, mit denen die Armut in den Entwicklungsländern reduziert werden kann. Soll bis 2015 die Zahl der Armen halbiert werden, wie das die Millennium Development Goals vorsehen, muss das Problem auf breiter Front angegangen werden.

»Die indische Idee, Produzenten und Käufer direkt zusammenzubringen, finde ich gut. So etwas könnte auch in Kenia funktionieren«, sagt Edward Muchai (39) aus Nairobi, der für The Nation, Kenias führende Tageszeitung mit 300 000 Lesern, arbeitet. Andere Projekte kamen bei dem Journalisten weniger gut an. »Mikrofinanzierung wird hier als Erfolgsmodell gefeiert, weil man damit den Armen durch zinsgünstige Kleinkredite zu einem eigenen Geschäft verhilft. Grundsätzlich stimmt das auch. Aber ausgerechnet die kenianische Bank K-Rep, die hier vorgestellt wurde, fordert höhere Zinsen als kommerzielle Banken. Ich weiß nicht, was daran für die Armen hilfreich sein soll.« Dass sich die Weltbank ihre Partner nicht genauer ansieht, wundert Muchai. »Wichtig ist es zudem, immer nachzufragen, wie der Erfolg zustande gekommen ist.« Viele Projekte, die auf der Konferenz in Shanghai vorgestellt wurden, seien wenig konkret, kaum jemand stelle kritische Nachfragen, findet der Journalist.

Das gilt auch für das Modell der kenianischen Blumenindustrie. »Es ist richtig, dass so in Kenia viele Arbeitsplätze entstanden sind. Aber was keiner gesagt hat: Die Beschäftigten werden durch Niedrigstlöhne ausgebeutet.« Positiv an der Konferenz findet Muchai, dass zum ersten Mal lokale Experten aus Entwicklungländern zusammenkommen, um sich auszutauschen. »Früher haben sich Experten der Weltbank in Washington die Projekte ausgedacht.« Was dem Journalisten aus Kenia fehlt: »Gescheiterte Initiativen – was klappt, was klappt nicht, und warum. Ich finde es wichtig, dass wir auch aus Fehlern lernen können.«

Austausch auf NGO-Ebene – über das neue Konzept der Weltbank gehen die Meinungen der Medienvertreter auseinander. »Im Publikum sind kaum politische Entscheidungsträger«, kritisiert Candice Zachariahs (25) aus Bombay, Reporterin bei Indiens größter Wirtschaftszeitung Times of India mit 600 000 Lesern. »Ohne politische Unterstützung kommen die NGO nicht vom Fleck. Außerdem sind nicht alle Modelle übertragbar. Eine Aktivistin aus dem Jemen, die sich täglich mit islamischen Fundamentalisten auseinandersetzen muss, kann mit Frauenförderungsprogrammen aus Uganda nichts anfangen.« Zwei Tage hält sie für zu kurz für einen wirklichen Meinungsaustausch. Die Modelle würden im Schnelldurchlauf abgehakt, findet sie.

Nimmt sie für Indien etwas mit? »Auf jeden Fall. Armut spielt in den indischen Medien keine Rolle. Sie ist einfach etwas, was schon immer da war. Nur Erfolg ist sexy. Wenn ich also erfolgreiche Modelle zur Armutsbekämpfung vorstelle, kommt das beim indischen Leser gut an.« Eine Bildungskampagne wie die Aktion »Oportunidades« aus Mexiko wäre auch hilfreich für ihr Land, meint die Reporterin. »Die Regierung übernimmt die Grundschulgebühren für arme Kinder, verteilt Gutscheine an die Eltern. Außerdem dürfen die Kids ihre Schule frei wählen. Das wäre eine gute Idee in Indien, denn wir haben 400 Millionen Analphabeten.« Spannend fand sie auch die Erfahrungen des brasilianischen »Favela Barrio«-Programms zur Urbanisierung von Slums. »Wie sorgt man dafür, dass Slumbewohner in Rio oder Bombay Wohnungen, Schulbildung, Arbeitsplätze bekommen? Da ist es interessant, die Lösungen unserer beiden Länder zu vergleichen.«

Für die 26jährige Juliana Radler (São Paulo) ist die Konferenz eine willkommene Gelegenheit, mit Experten aus dem eigenen Land zu diskutieren. »Etwa 100 Fachleute aus der mittleren Führungsebene Brasiliens sind hier. Die wissen viel besser Bescheid als unsere hochrangigen Politiker«, sagt die Reporterin, die im Auftrag der zweitgrößten Tageszeitung von Rio, Journal do Brasil, die Shanghaier Konferenz beobachtet. So habe Präsident Lula bei der Eröffnung eine leidenschaftliche Ansprache über Wege aus der Armut gehalten, kritisiert die Reporterin. »Aber bisher hat er seinen Reden kaum Taten folgen lassen.« Einziges Manko der Konferenz: Sobald sie das Thema Korruption angesprochen habe, seien alle peinlich berührt gewesen. »Dabei ist Brasilien das Land mit dem stärksten Ungleichgewicht zwischen Arm und Reich. Aber Geld, das in soziale Projekte fließt, kommt nicht bei den Betroffenen an. Und Korruption ist der wichtigste Grund dafür.«

Frauen sind von Armut besonders betroffen, weiß Ramata Diaouré (45). Die Journalistin ist Chefredakteurin von Nyéléni (»Die moderne Frau«), der einzigen Frauenzeitschrift in Mali. 500 bis 700 Leserinnen zählt das Monatsmagazin. Nicht wenig in einem Land, in dem gerade mal zehn Prozent der Frauen lesen und schreiben können. Sie sieht die Veranstaltung kritisch. »Bei uns leben zwei Drittel der Menschen unterhalb der Armutsgrenze, kämpfen täglich um ihr Überleben. Gleichzeitig werden Experten in Chinas Boomtown eingeflogen, um über Armut zu diskutieren.«

Für Diaouré gehören die Themen Frauenarmut und Aids-Virus zusammen. In Mali sind 6,8 Millionen Menschen infiziert. »Meistens stecken sich die Männer zuerst an, weil sie mehrere Frauen haben oder fremd gehen. Traditionell ist der Mann für die Versorgung von Frau und Kindern zuständig. Stirbt der Ehepartner, ist die Frau auf sich allein gestellt.« Das gesamte Vermögen kassiert nach islamischem Recht die Familie des Mannes. »Außerdem machen die meisten Afrikaner die Frauen für die Übertragung des Aids-Virus verantwortlich und meiden sie wie Aussätzige. Die Frauen müssen also auf der Straße betteln, um zu überleben.« Deswegen sei es begrüßenswert, dass Aids auf der Tagung thematisiert werde.

Von einer »Alibi-Veranstaltung« spricht Liliana Franco (50), Chefreporterin des Wirtschaftsmagazins Ambito Financero aus Buenos Aires. »Weltbank und IWF waren mitverantwortlich für die Finanzkrise, die tausende Argentinier in den Ruin getrieben hat.« Millionen von Euro würden für eine Mega-Konferenz ausgegeben. Dabei seien die Probleme in den einzelnen Ländern völlig unterschiedlich. Francos Vorschlag: Im Vorfeld analysieren, welche Staaten ähnliche Strukturen und Probleme haben, und dann eine zweiwöchige Zusammenkunft dieser Länder in einem überschaubaren Rahmen organisieren, mit Zeit und Ruhe zum Diskutieren. »Das wäre sicher ein Erfolgsprojekt.«