Den Armen mehr Saft!

Robin Hood im Großstadtdschungel: Französische Gewerkschafter protestieren mit subversiven Methoden gegen die Privatisierung der Elektrizitätsversorgung. von bernhard schmid, paris

Robin Hood schlägt wieder zu. Dieses Mal allerdings nicht im britischen Sherwood Forest, sondern in französischen Großstädten. Gewerkschafter drehen Großunternehmen, dem Amtssitz von Präsident und Premierminister und besonders privatisierungsfreudigen Abgeordneten zu Hause den Strom ab, während sozial schwache Haushalte und Krankenhäuser kostenlos versorgt werden. Seit Anfang voriger Woche läuft die opération Robin des bois (Aktion Robin Hood).

Am 15. Juni begann die Parlamentsdebatte zur Umwandlung der beiden französischen Energieversorgungsunternehmen Electricité de France (EDF) und Gaz de France (GDF) in privatrechtliche Aktiengesellschaften. Die 113 000 beziehungsweise 25 000 Beschäftigten der beiden öffentlichen Betriebe sind davon ebenso wenig begeistert wie ein bedeutender Teil der Öffentlichkeit. Seit Wochen reißen daher die Gegenaktionen nicht ab.

Nach einer Demonstration in Paris am 27. Mai, an der 80 000 Beschäftigte von EDF und GDF teilnahmen, begann ein Teil der Betroffenen mit so genannten Nadelstichaktionen. In der zweiten Juniwoche wurde als Warnung drei Pariser Bahnhöfen einen Vormittag lang der Saft abgedreht. 500 000 Fahrgäste vor allem von Pendlerzügen zwischen Paris und seinen nördlichen Vororten saßen mehrere Stunden lang fest.

Das jedoch war taktisch unklug, weil es einigen Presseorganen erlaubte, eine Bresche für die Gegenpropaganda zu schlagen. Man kennt das: Bei jedem halbwegs erfolgreichen Streik im öffentlichen Dienst klagen Politiker und Zeitungen mit Leidenschaft über die »Geiselnahme der Öffentlichkeit«. Dieses Mal titelte beispielsweise die rechtsbürgerliche Boulevardzeitung France Soir am folgenden Tag auf Seite Eins: Sévice public (öffentliche Misshandlung), anstelle von service public (öffentlicher Dienst). An den Zeitungskiosken konnte man die Käufer des Blattes laut schimpfen hören über die »faulen, ewig streikenden, privilegierten Staatsbediensteten«.

Ansonsten verfing die Propaganda aber nur sehr begrenzt, da die meisten Franzosen wissen, was auf dem Spiel steht. Die Verstaatlichung der Energieversorgung von 1946 – in Form der Einrichtung eines öffentlichen Monopols und der Garantie nicht am Gewinn orientierter Verbraucherpreise – war in Frankreich das Ergebnis jener Phase, die unmittelbar auf die Befreiung vom Faschismus folgte. Damals regierte eine antifaschistische Koalition unter Einschluss der Kommunistischen Partei. Der kommunistische Industrieminister Marcel Paul trieb die Verstaatlichung der Energiebetriebe voran. Die Errungenschaften dieser Periode will die Regierung jetzt endgültig auslöschen – dasselbe gilt für die gesetzliche Sozialversicherung, die 1945 eingerichtet wurde. Wenn am Dienstag dieser Woche die Parlamentsdebatte über die Privatisierung der EDF in erster Lesung abgeschlossen ist, dann beginnt am selben Abend jene über die »Reform« der Krankenversicherung.

In den Jahrzehnten nach 1945 ging es zwar nicht wirklich demokratisch zu an der Spitze des öffentlichen Unternehmens, zumal die Atomlobby zur Durchsetzung der Kernkraft einen dichten »Filz« unter Einschluss der Mehrheitsgewerkschaft CGT schuf. Dennoch blieben sowohl für die Beschäftigten, die beispielsweise mit 55 Jahren in Rente gehen können, als auch für die Verbraucher wichtige soziale Garantien bestehen. Nicht einmal die von der Privatisierung begeisterte Spitze des Unternehmens wagt derzeit zu behaupten, die Durchsetzung der Privatisierungspläne werde zu niedrigeren Kosten für die Konsumenten führen: Direktor François Roussely sagt derzeit eine Erhöhung der Verbraucherpreise um 15 Prozent voraus.

Anschauungsmaterial liefern dabei die Erfahrungen mit der Privatisierung der kommunalen Wasserversorgung: Dort, wo sie stattfand, ist das Wasser um 23 bis 144 Prozent teurer. Ferner zeigt sich die Öffentlichkeit auch nicht begeistert von der Vorstellung, die 56 französischen Atomkraftwerke irgendwann in Zukunft in privater Hand zu wissen. Allzu deutlich kann man sich die zu erwartenden Auswirkungen auf die Sicherheitsstandards ausmalen.

Die Regierung versucht zu beruhigen, indem sie versichert, dass die Umwandlung von EDF und GDF in Aktiengesellschaften, an denen der Staat anfangs noch 70 Prozent der Anteile halten soll, nicht vor Sommer nächsten Jahres beginne. Vorher muss der betriebswirtschaftliche Wert der Unternehmen genau berechnet werden. Ferner muss vereinbart werden, was mit der Schuldenlast der Unternehmen geschieht, die derzeit 24 Milliarden Euro beträgt. Sie ist die Frucht einer Unternehmensstrategie, aufgrund deren die EDF sich seit einem Jahrzehnt bereits wie ein Privatkonzern verhält und Unternehmensbeteiligungen von Italien bis Argentinien zusammengekauft hat. Durch einige Fehlinvestitionen wurden Schulden angehäuft, die jetzt als Argument für die Privatisierung dienen sollen.

Erst kürzlich haben EDF und GDF 36 Prozent der Anteile an einem polnischen Energieversorger gekauft, an dem die Franzosen jetzt insgesamt 80 Prozent halten. Eine Delegation von polnischen Beschäftigten der EDF war auch bei der Pariser Großdemonstration am 27. Mai dabei, »aus Solidarität mit den französischen Kollegen«. Die Pariser Tageszeitung Libération beschreibt, wie es bei der EDF in Polen zugeht: »Niedrige Löhne, wenig Arbeitsplätze. Vielleicht wird es in 15 Jahren besser sein, aber derzeit wird es von Tag zu Tag schlimmer.«

In den Tagen nach der Stromabschaltung in den Pariser Bahnhöfen – und nach dem gewaltigen Presseecho – begannen die Gewerkschaften, ihre Aktionen umzuorientieren, um die Bürger stärker in ihren Kampf einzubeziehen. So entstand die »Aktion Robin Hood«. Rund 250 000 Haushalten ist derzeit wegen finanzieller Schwierigkeiten der Strom abgedreht. Die Gewerkschaften rufen nun dazu auf, ihn – ungesetzlich – wieder anzustellen. Auch Krankenhäuser und Sozialeinrichtungen sollen nach Angaben der CGT kostenlos versorgt werden. Bei einem »Aktionstag« am vorigen Donnerstag kamen ferner 300 000 Haushalte auch tagsüber in den Genuss des billigeren Nachttarifs.

Die Öffentlichkeit ist gespalten. In der Sonntagszeitung JDD sah man auf einem Foto Gewerkschafter mit Theatermasken beim illegalen Abmontieren der Sperrvorrichtungen am Stromzähler, mit denen einem armen Haushalt die Elektrizität abgeklemmt wird. Das Boulevardblatt France Soir konterte tags darauf mit einer Karikatur mit denselben Maskierten. Darunter die Frage: »Islamisten mit Leichenstücken?« und die Antwort: »Nein, Beschäftigte der EDF mit Stücken von Ihrem Stromzähler!« Darauf muss man erstmal kommen.