Flackerndes Lebensfeuer

Weil die Türkei gerne in die EU will, unterliegt eine kurdische Musikgruppe auch in diesem Land fast nur noch kapitalistischen Zwängen. Eine Reportage von sabine küper-busch, istanbul

In der Cafer-Aga-Sporthalle des Istanbuler Stadtteils Kadiköy setzt die Sängerin der kurdischen Kultgruppe Agire Jiyan (Lebensfeuer) zum Refrain des Abschluss-Liedes an. »Azade« (»frei«) ist der Titel des Liedes, und bald stampft der ganze Saal zur Musik. In dem Lied geht es um Redefreiheit, die Freiheit, den Wohnort selbst zu wählen, die Freiheit für die Vögel am Himmel und die Freiheit für »die Jugend mit den Herzen aus Feuer« – mit der ohne Zweifel die kurdische Guerilla gemeint ist.

Der Ruf »Es lebe Apo«, der inhaftierte PKK-Chef Abdullah Öcalan, ertönt jedoch nur vereinzelt im Saal. Die Musik klingt mehr nach Rock als nach der in den neunziger Jahren üblichen Agitprop-Folklore kurdischer Liedermacher, und das Publikum – die meisten Zuhörer sind 15 bis 30 Jahre alt – unterscheidet sich in keiner Weise vom Istanbuler Durchschnittsbürger. Man kleidet sich nach dem neuesten urbanen Schick, wenn auch die Kaufkraft der Fans von Agire Jiyan deutlich unter dem Niveau der verwöhnten, nur Markenartikel kaufenden türkischen Mittelschichtkids liegt. An diesem Samstagabend tanzen hier die kurdischen Migrantenkinder, deren Eltern in den achtziger und neunziger Jahren vor dem Krieg zwischen türkischem Militär und kurdischer PKK in die türkischen Großstädte geflohen sind. Die Liedtexte erinnern noch an diese Zeit, ohne jedoch Sehnsucht nach Kampf oder nationalistische Töne zu verbreiten.

Wir treffen uns am nächsten Tag mit Meral Tekci und dem Rest von Asgire Jiyan im kurdischen Kulturzentrum Mesopotamien. Noch vor einigen Jahren belauerten ständig Streifenwagen das Zentrum auf dem belebten Istiklal-Boulevard in Istanbul. Razzien und Verhaftungen gehörten zum Alltag. Das ist Vergangenheit. Das Zentrum ist Teil der Infrastruktur derjenigen, die der PKK bzw. der Kongra-Gel, dem Kurdischen Volkskongress, wie sich die Organisation jetzt nennt, nahe stehen. Im zentrumseigenen Buchladen überwiegen Publikationen von Öcalan, der seit fünf Jahren auf der Gefängnisinsel Imrali im Marmara-Meer eine lebenslange Haftstrafe verbüßt. Man bekommt hier viele Zeitschriften, die aber immer noch im Ausland verlegt werden müssen.

Allerdings können die Musiker von Agire Jiyan ihre CDs in Istanbul inzwischen problemlos aufnehmen und auch vertreiben. Die erste Scheibe von 1997 wurde verboten, mehrere Verfahren vor dem Staatssicherheitsgericht wurden eröffnet. Jetzt kämpft die Gruppe lediglich noch gegen die faktische Zensur des Marktes und des Rundfunkkontrollrates. Obwohl Agire Jiyan zu den Top Ten im Land gehört, haben sie nur Fans unter den 25 Prozent kurdischer Bevölkerung in der Türkei. Kein landesweiter Sender will den neuesten Clip senden.

Doch im Kulturzentrum diskutiert man ein brisanteres Thema. Die Freilassung der kurdischen Abgeordneten der verbotenen Demokratie-Partei DEP, Leyla Zana, Hatip Dicle, Orhan Dogan und Selim Sadak, die wegen ihrer Verurteilung als Mitglieder einer terroristischen Vereinigung zehn Jahre in einem Hochsicherheitstrakt in Ankara inhaftiert waren, erscheint vielen noch unwirklich. Obwohl die vier ihre Haftstrafe im nächsten Jahr abgesessen hätten, erschienen sie vielen Kurden als die ewigen Gefangenen. »Ich war zur Zeit des Prozesses 16 Jahre alt«, erzählt Meral. »Diese zehn Jahre sind in meinem Bewusstsein eine sehr lange Zeit.« Viele hatten auch geglaubt, dass neue Beschuldigungen zu weiteren Jahren der Inhaftierung führen würden. Die meisten Leute im Zentrum sind ohnehin der Meinung, dass die Freilassung nur ein taktischer Schachzug mit Blick auf die Europäische Kommission sei, die im Dezember entscheiden wird, ob der Türkei ein Termin für den Beginn von Beitrittsverhandlungen zugesprochen wird.

Tatsächlich ist die Haftentlassung bislang nur vorläufig. Am 8. Juli wird das Revisionsgericht darüber entscheiden, ob das wegen Einwänden des Europäischen Gerichtshofes neu aufgerollte Verfahren, das im April mit einem erneuten Schuldspruch endete, rechtens ist oder nicht. Theoretisch könnten die vier Abgeordneten wieder inhaftiert werden.

Eher komisch finden die jungen Istanbuler Kurden, dass der türkische Staatssender TRT seit der Freilassung der kurdischen Politiker nun auch angefangen hat, Nachrichten auf kurdisch auszustrahlen. Seit zwei Jahren ist es theoretisch erlaubt, im Rundfunk Programme in »verschiedenen Mundarten« auszustrahlen. Das nun umgestellte Sendekonzept ähnelt einer Idee der Bürger von Schilda. An fünf Tagen proWoche sendet TRT 3 nunmehr ab 6.20 Uhr eine halbe Stunde lang Nachrichten in »Mundarten«: montags bosnisch, dienstags arabisch, mittwochs im kurdischen Dialekt Kurmanci, donnerstags tscherkessisch und freitags im kurdischen Dialekt Zaza. Der Interessenverband der wenigen Bosnier in der Türkei hat kurz nach dem Beginn der Ausstrahlung bereits geäußert, er wolle gar keine bosnischen Nachrichten, da sich die Bosnier in der Türkei als Gäste und nicht als ethnische Minderheit fühlten.

Meral erzählt kichernd, dass sie tatsächlich einmal am Morgen aufgestanden sei und sich die Sendung auf Kurmanci angesehen habe. Besonders komisch fand sie, dass TRT tunlichst darauf achtet, Wörter mit den im kurdischen Alphabet geläufigen Buchstaben W und X zu vermeiden. Da diese im türkischen Alphabet nicht vorkommen, ist ihr Gebrauch in der Türkei nach wie vor verboten, zumindest wenn es sich um Ausdrücke im Kurdischen handelt.

Wir reisen weiter in die kurdischen Gebiete im Südosten, die man kaum noch so nennen kann. Wie viele Kurden inzwischen in andere Regionen, die Metropolen vor allem, und an die türkische Ägäisküste abgewandert sind, weiß niemand so genau. Es dürfte fast die Hälfte des kurdischen Bevölkerungsanteils sein, etwa zehn Millionen Menschen.

Im ostanatolischen Urfa treffen wir Ömer Kurt. Er ist Lehrer und Leiter des ersten offiziellen Kurdisch-Kurses in der Türkei. Zwei Jahre wartete Kurt auf die Genehmigung, legte Feuerleitern an und erfüllte endlos weitere Auflagen des Ministeriums. Seit April unterrichten zwei Lehrer an den Wochenenden je 20 Schüler, mehr ist nicht erlaubt. 300 Anmeldungen hat es eigentlich gegeben, da aber nur ausgebildeten Lehrern, die gleichzeitig keine andere Anstellung an einer Schule haben dürfen, das Unterrichten gestattet ist, fanden sich nur zwei Lehrkräfte. Ein Anfang, glaubt Kurt, und setzt hinzu, dass diese Kurse im Grunde Augenwischerei seien. Kurdisch als Wahlfach an Schulen und Universitäten fordert hingegen seine Partei, die Demokratie-Partei des Volkes, Dehap; sie ist inzwischen die vierte Nachfolgerin immer wieder verbotener kurdischer Parteien. Das scheint allerdings immer noch eine weit entfernte Vision zu sein.

Wegen der Aufkündigung des Waffenstillstandes durch Kongra-Gel macht sich in der Region Angst breit. Was soll sie bewirken? Diese Frage wagt in den Kurdengebieten niemand ehrlich zu beantworten. Der militärische Arm von Kongra-Gel nennt als Grund für die Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes Militäroperationen der türkischen Regierung gegen die Organisation. Da die kurdische Guerilla sich vor fünf Jahren allerdings nach der Festnahme Öcalans demonstrativ aus den türkischen Bergen zurückgezogen hat, bleibt die unbeantwortete Frage, wo denn die türkische Armee Militäroperationen durchgeführt haben soll. Plausibler erscheint es, dass Kongra-Gel fürchtet – vor allem, weil sie in Europa weiterhin als Nachfolgeorganisation der PKK gilt –, vom Reformprozess gänzlich ausgeschlossen zu werden. Die erhoffte Generalamnestie für die verbliebenen Guerillas blieb bislang jedenfalls aus. Und sie ist auch nicht zu erwarten.