Blair entgleist

Während überall die Arbeitszeiten verlängert werden, streiken die Arbeiter der Londoner U-Bahn für die 35-Stunden-Woche. von matthias becker

Auf den Einfallstraßen gab es Kilometer lange Staus. In vielen Straßen waren sogar die Bürgersteige überfüllt, denn viele wanderten zu Fuß zu ihrem Arbeitsplatz. Am Mittwoch vergangener Woche streikten Arbeiter der Londoner U-Bahn und brachten den Verkehr in der britischen Hauptstadt zum Erliegen. Ganz gegen den europäischen Trend versuchen sie, die 35-Stunden-Woche beziehungsweise eine Vier-Tage-Woche durchzusetzen. Einem 2002 erstellten Bericht der Europäischen Union zufolge führt Großbritannien mit 43,3 Stunden pro Woche die Rangliste der Wochenarbeitszeiten in Europa an, dicht gefolgt von Griechenland und Spanien.

Das Wirtschaftsforschungsinstitut Numericus schätzt den Schaden eines Streiktages auf etwa 150 Millionen Euro, und der Sprecher der Londoner Handelskammer, Dan Bridgett, meinte, der Streik verschlechtere die Aussichten der Stadt auf die Olympiade 2012: »Es zeigt der Welt das andauernde Versagen des Londoner Nahverkehrs.« Die Reaktionen der Londoner, die den Ausfall von U-Bahnen wegen technischer Schwierigkeiten gewohnt sind, waren teils verständnisvoll, teils empört. An manchen Bushaltestellen kam es gar zu Handgreiflichkeiten, als entschlossene Arbeitswillige um die Plätze im Bus kämpften.

Die Transportarbeitergewerkschaft Railway Maritime Transport (RMT), die den Streik organisiert hatte, zeigte sich mit der Beteiligung zufrieden. Ihrem Streikaufruf sei »insgesamt gefolgt worden«. Tatsächlich fuhren am Mittwoch nur etwa 30 Prozent der Bahnen.

Eine Arbeitszeitverkürzung um zwei Stunden – Kernpunkt der Auseinandersetzung – ist eigentlich schon fest zugesagt. Signalwärter und Aufsichtspersonal in den U-Bahnhöfen hatten die 35-Stunden-Woche bereits vor sieben Jahren grundsätzlich durchgesetzt, deren Realisierung wurde aber immer wieder verschoben. Bei den Eisenbahnen soll sie nun bis 2006 überall in Großbritannien eingeführt werden. Auch das Management bei London Underground (LU) wehrt sich nicht länger gegen die 35-Stunden-Woche, behauptet aber, dass eine Vier-Tage-Woche nicht ohne Preiserhöhungen finanziert werden könne.

Die Transportarbeiter bei LU haben ihre strategische Position an den Lebensadern der britischen Hauptstadt bisher nutzen können, um die heftigsten Zumutungen ihres Managements abzuwehren. Bei LU werden vergleichsweise hohe Löhne verdient, erkauft werden damit aber auch harte Arbeitsbedingungen unter der Erde.

In der Öffentlichkeit sichtbarster Vertreter der RMT ist ihr Vorsitzender Bob Crow. Der bullige Mann war früher Mitglied der Kommunistischen Partei, später in der Socialist Labour Party. Für die Boulevardzeitungen ist er das Hassobjekt Nummer eins, gerade weil er in ihrer Sprache spricht. In seiner Wortwahl ist er nicht zimperlich; so nannte er beispielsweise Premierminister Tony Blair und die Seinen wiederholt »Kriegsverbrecher und Arbeiterverräter«.

Der Konfrontationskurs der RMT gegen Management und Regierung hängt mit der Privatisierung der Eisenbahn und des Schienennetzes zusammen, durch die katastrophale Zustände entstanden sind. Viele Eisenbahner haben zudem Verschlechterungen ihrer Arbeitsbedingungen und (Real-) Löhne hinnehmen müssen. Die Rückführung der privatisierten Eisenbahn in staatliche Kontrolle ist daher eine der Kernforderungen der Gewerkschaft. Außergewöhnlich ist ihre Bereitschaft zum Streik: Vor einiger Zeit liefen gleichzeitig 17 Urabstimmungen der RMT im Transportsektor. Seinen Gegnern hält Bob Crow entgegen, dass die konfrontative Strategie durchaus erfolgreich ist. So gelang es der RMT als bisher einziger Gewerkschaft, die Pensionszahlungen für ihre Mitglieder zu retten. In Großbritannien werden die Pensionen zu einem immer drängenderen Problem, weil viele Arbeiter und Angestellte ohne ihre Betriebsrenten der Altersarmut entgegensehen. Crow verweist außerdem auf die überdurchschnittlich vielen Tarifabschlüsse oberhalb der Inflationsrate. Damit ist die RMT auch insofern erfolgreich, als dass ihre Mitgliederzahlen im Gegensatz zu anderen Gewerkschaften steigen.

Hintergrund der Auseinandersetzung sind die sich stetig verschlechternden Beziehungen zwischen der Labour Party und den Gewerkschaften. Trotzdem zögern die meisten Gewerkschaftsfunktionäre, ihre Mitglieder wirklich gegen die Regierung zu mobilisieren. Mangels Alternative hofft die Mehrheit der Funktionäre weiterhin auf Labour, aber ihr Enthusiasmus ist nach zwei Legislaturperioden unter Tony Blair weitgehend aufgebraucht.

Unison, die größte Gewerkschaft Großbritanniens, die Angestellte in den öffentlichen Diensten organisiert, drohte kürzlich, wie die RMT ihre Zahlungen an die Labour Party einzustellen. Das würde Blair in ernste Schwierigkeiten bringen, denn New Labour mag sich ideologisch von der organisierten Arbeiterschaft verabschiedet haben, aber in der politischen Ökonomie der Labour Party spielt sie durchaus noch eine wichtige Rolle: als Geldgeber. Unison stellt anderthalb Millionen Pfund jährlich zur Verfügung, außerdem spendete die Gewerkschaft umgerechnet 922 500 Euro für den letzten Wahlkampf. Auf dieses Geld ist Labour angewiesen, vor allem weil sich die Mitgliedschaft seit Blairs Wahlsieg 1997 fast halbiert hat und sie deshalb immer weniger Beiträge einnimmt.

Unter der Regierung Blair geht die Privatisierung kaum gebremst weiter. Gerade im ehemaligen, weil mittlerweile privatisierten öffentlichen Dienst sind denn auch die meisten der von englischen Zeitungskommentatoren gerne als »merkwürdige Truppe« bezeichneten linken Gewerkschaftsführer anzutreffen. Die militante Rhetorik von Vorsitzenden wie Michael Rix von der Dienstleistungsgewerkschaft ASLEF oder Billy Hayes von der Communications Workers Union ist Ausdruck der Wut ihrer Mitglieder. Aber Crows RMT war bislang die einzige Gewerkschaft, die ihre Drohung wahr machte und Labour die finanzielle Unterstützung entzog.

Eine Wiederholung des Streiks ist nicht ausgeschlossen, denn London Underground ist bisher nicht bereit nachzugeben. Eher hofft das Management, dass die RMT mit ihren Aktionen die öffentliche Meinung gegen sich aufbringen wird.

Ken Livingstone, der »rote« Bürgermeister von London, forderte die Angestellten von LU zum Streikbruch auf. Das war pikant, denn der Kernpunkt von Livingstones Wahlprogramm war die Sanierung des maroden Nahverkehrs. In London mit den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs zu sein, ist nicht nur teuer, sondern manchmal geradezu lebensgefährlich, wie eine Serie von Unfällen in der U-Bahn im Winter zeigte. Zwischen Livingstone und Crow spielte sich nach dieser Aussage ein unfreiwillig komischer Streit über die Heiligkeit gewisser sozialistischer Prinzipien ab. Der Bürgermeister meinte in Hinblick auf den Streik: »Zum ersten Mal würde ich gegen meine Prinzipien die Streikkette übertreten.« Der Gewerkschaftsboss entgegnete daraufhin: »Meine ganze Erziehung bestand aus sozialistischen Grundsätzen und darin, an das elfte Gebot zu glauben: Du sollst nicht überqueren die Streikkette.«