An der Grünen Linie

Gegner Sharons sehen den Bau des Sicherheitszaunes als Mittel, um palästinensische Gebiete zu annektieren. Das Oberste Gericht hat nun entschieden, dass der Verlauf der Sperranlage geändert werden muss. von jörn schulz

Nicht immer fühlte sich Ariel Sharon an Anweisungen gebunden, die ihm missfielen. Als Offizier ignorierte er mehrfach die Befehle seiner Vorgesetzten, wenn ihm ein Angriff sinnvoll erschien, und als Verteidigungsminister ließ er 1982 die israelischen Truppen weiter in den Libanon vordringen, als es die Regierung beschlossen hatte.

Sich dem Obersten Gericht Israels zu widersetzen, wagt jedoch nicht einmal Sharon. Am Mittwoch der vergangenen Woche hat das Gericht festgestellt, dass die Route des Sicherheitszaunes in einem Gebiet nordwestlich von Jerusalem »in akuter und schwer wiegender Weise die lokalen Einwohner schädigt«. Dies sei ein Verstoß gegen die internationalen Menschenrechte. Der Verlauf des Zauns muss nun auf einer Länge von 30 Kilometern geändert werden.

Umgehend riet Minister Danny Naveh, »bei allem Respekt vor den Richtern« ein Gesetz zu verabschieden, um »das Oberste Gericht in dieser Angelegenheit zu übergehen«. Das lehnt Ministerpräsident Sharon ab: »Wir müssen die Dinge vereinfachen und dürfen keine abgeschlossenen palästinensischen Enklaven schaffen.« Er kündigte an, den Zaun »etwas näher an der Grünen Linie« zu bauen, die nach dem Krieg von 1948 zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten gezogen wurde.

Das Urteil ist für Sharon unbequem, und die Entscheidung über mehr als 20 weitere Klagen steht noch aus. Andererseits sprachen die Richter der Regierung das Recht zu, einen Sicherheitszaun zu errichten, und bestätigten, dass er nicht der Grünen Linie folgen muss. Der Verlauf muss jedoch eine »angemessene Balance« zwischen israelischen Sicherheitsinteressen und den Rechten der palästinensischen Bevölkerung halten.

Seit Beginn der so genannten Al-Aqsa-Intifada ist der Lebensstandard in den palästinensischen Gebieten drastisch gesunken. In den neunziger Jahren benötigten einige Tausend der Palästinenser, die nicht als Flüchtlinge registriert sind, Nahrungsmittelhilfe. Im kommenden Jahr plant das World Food Program (WFP), 480 000 Menschen zu versorgen. Die Hälfte der Bevölkerung in den palästinensischen Gebieten ist von Hilfslieferungen abhängig. Diese Steigerung ist nach Angaben des WFP zum Teil eine Folge des Sicherheitszaunes und anderer Einschränkungen der Mobilität. Viele Felder können nicht mehr bewirtschaftet werden, der Verkauf der Produkte ist kaum noch möglich, und die Arbeitsmigration wird erschwert.

»Wer sich wirklich über die Sicherheit der Bürger Israels Sorgen macht, würde nicht Zehntausende feindseliger, rachedurstiger Palästinenser westlich des Zaunes lassen«, kommentierte Akiva Eldar in der Tageszeitung Ha’aretz. Wie viele linke Israelis und die meisten Palästinenser vermutet er, der »kleine Plan«, der von Sharons Kabinett beschlossene Rückzug der israelischen Armee aus Gaza und die Räumung der Siedlungen in diesem Gebiet, solle eine Konfrontation mit der nationalreligiösen Rechten simulieren und die US-Regierung beruhigen, damit der »große Plan«, die Annexion weiter Teile der Westbank, ungehindert durchgeführt werden kann. In diesem Szenario gilt der Zaun als Mittel der Annexion palästinensischer Gebiete.

Allerdings war Sharon anfangs gar nicht begeistert von der Idee, die palästinensischen Gebiete durch eine Sperranlage von Israel zu trennen. Sie sei »nicht praktikabel«, erklärte er im April 2001, kurz nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten. »Ich habe immer gesagt, dass es möglich ist, mit den Arabern zu leben. Es ist die Linke, die nicht mit den Arabern leben will.«

Oberst Shaul Arieli hatte noch für Sharons Vorgänger Ehud Barak eine Route geplant, die 300 Quadratkilometer der palästinensischen Gebiete der israelischen Seite zugeschlagen und die Wohngebiete von 56 000 Palästinensern vom Rest der Westbank getrennt hätte. Sharon misstraute den Beteuerungen von Vertretern der Arbeitspartei, es sei kein Vorgriff auf die Grenzziehung zu einem künftigen palästinensischen Staat, dass der Verlauf des Zaunes ziemlich genau der Grünen Linie folgen sollte.

Da israelische Militäroperationen die palästinensischen Attentate nicht stoppen konnten, stimmte Sharon dem Bau schließlich widerstrebend zu. Seine Likud-Partei, die Siedlerorganisationen und Experten der Armee setzten eine Reihe von Änderungen des ursprüglichen Plans durch. Nach den vor der Entscheidung des Obersten Gerichts gültigen Plänen sollten durch eine Sperranlage, die zu mehr als 96 Prozent aus einem elektronisch gesicherten Zaun und an besonders gefährdeten Stellen aus knapp neun Meter hohen Betonblöcken besteht, 900 Quadratkilometer mit 400 000 Bewohnern von der Westbank isoliert werden.

Wäre der Verlauf des Sicherheitszaunes für Sharon ein Vorgriff auf die Grenzziehung, hätte er jedoch von seinen Plänen große Abstriche gemacht. Nur 42 Prozent oder »vielleicht ein bisschen mehr« der Westbank mochte er den Palästinensern bislang als Staatsgebiet zugestehen. Die Sperranlage schlägt etwa 17 Prozent der Westbank der israelischen Seite zu.

Für die nationalreligiöse Ideologie des heiligen Anspruchs auf die Westbank und Gaza hat der Säkularist Sharon wenig Verständnis. Siedlungspolitik ist für ihn Sicherheitspolitik. Selbst isolierte Siedlungen wie Netzarim im Gazastreifen werde er »um keinen Preis« aufgeben, erklärte Sharon bei seinem Amtsantritt. Nun will er gleich alle Siedlungen im Gazastreifen räumen lassen, selbst wenn der Preis dafür ein Ausstieg der rechten Koalitionspartner aus der Regierung und ein Zerwürfnis mit seiner Likud-Partei ist.

Auch viele israelische Gegner Sharons hoffen deshalb auf ein anderes Szenario als Eldar. Sie sehen den Rückzug aus Gaza als Einstieg in den Ausstieg aus der Siedlungspolitik. Der Abzug der Siedler und der Armee würde die Palästinenser zur Klärung der internen Machtverhältnisse zwingen. Die kriegsmüde Bevölkerung in Gaza dürfte wenig Interesse an weiteren Konfrontationen haben, und die geplante Stationierung ägyptischer »Sicherheitsberater« wäre ein zusätzliches Hindernis für extremistische Gruppen.

Wenn die Deeskalation in Gaza gelingt, wo die Extremisten stärker sind als in der Westbank, würde sie in Israel die Anhänger eines weit gehenden Rückzugs aus den palästinensischen Gebieten stärken. Sollte Sharon dann nicht bereit sein, den größten Teil der Siedlungen einem neuen Sicherheitskonzept zu opfern, könnte ein anderer Ministerpräsident die Verhandlungen über die Gründung eines palästinensischen Staates zu Ende führen.

Wenn der Rückzug aus Gaza jedoch zu einem Bürgerkrieg oder einer neuen Terroroffensive führte, würde die israelische Bevölkerung einen Abzug aus der Westbank ablehnen. Die palästinensischen Gegner einer Zweistaatenlösung haben mit dem Raketenbeschuss israelischer Zivilisten bereits auf die Rückzugspläne reagiert. Yassir Arafat, der Vorsitzende der palästinensischen Autonomiebehörde, gibt sich dagegen betont konziliant. Auch ihm dürfte klar sein, dass bei einer Eskalation in Gaza nach dem Abzug der Israelis die auf absehbare Zeit letzte Chance zur Staatsgründung vertan wäre.