Dicke Kulturkartoffeln

Hauptsache groß und laut, dachten sich wohl die Kulturmanager und Lyrikbeauftragten. Die großen alten Männer der Lyrik kamen beim Berliner Poesiefestival kaum zum Zuge. von thomas blum

Berlin ist eine Stadt, die sich dadurch auszeichnet, dass sie auch dann, wenn es einmal darum ginge, still zu sein, immer nur laut ist. Auch Lyrik müsse nur laut genug und marktschreierisch inszeniert werden, dann sei sie Kultur und wichtig, so glaubt man in dieser Stadt, und infolgedessen haben auch die Initiatoren des alljährlich stattfindenden Poesiefestivals nach dieser Maxime gehandelt. Deshalb haben sie die »Nacht der Poesie«, mit der die Reihe von Lesungen und Performances eröffnet wurde und die dem Veranstalter, der Literaturwerkstatt Berlin, zufolge natürlich »die größte europäische Open-Air-Bühne für Poesie in Europa« ist, denn in Berlin muss immer alles mindestens das Größte sein, auf den Potsdamer Platz gelegt, wo man gewaltsam so etwas wie metropolitane Kultur und Weltoffenheit erzwingen möchte.

Je größer das Spektakel, desto besser die Kunst, dachte man sich und errichtete eine grell ausgeleuchtete Bühne, auf der man, so teilen die Veranstalter mit, die »crème de la crème der internationalen Dichter« platzierte und jeden jeweils zehn Minuten lang Gedichte vortragen ließ.

Je bemühter und zwangsorigineller der Conférencier darauf hinwies, dass man an diesem Abend Bücher nicht etwa an einem profanen Bücherstand, sondern am »Poesieterminal« erwerben könne, desto offensichtlicher wurde, worum es sich bei der »Nacht der Poesie« handelte: um eine Art Volksfest für Feuilletonleser, einen Kunstgewerbezirkus unter freiem Himmel. Dabei waren Bei Dao, Mahmud Darwish, Juan Gelman, Ana Paula Tavares, Agi Mishol, Paul Muldoon, Dane Zajc, Herta Müller und Lawrence Ferlinghetti.

Und wo so ein dickes Ding zelebriert wird, darf ein Mann wie der Rezensentenliebling und Büchnerpreisträger Durs Grünbein, der seine prätentiösen, gespreizten und überfüllten Gedichtwürste zum Vortrag brachte, natürlich nicht fehlen. Man müsse immer ganz dick auftragen, sonst sei es nichts wert, denkt ein schwerstdeutscher Seriositätsdichter vom Schlage Grünbeins, und deshalb muss es in jedem Gedicht gehörig suhrkampen und rappeln vor lauter Mythologie, Antike, Abendland und Bildungsbürgerstubengeruch, und überall im Text, wo noch ein bisschen Platz ist, muss mindestens ein »Goldenes Vlies«, ein »Ariadnefaden«, »Thors Hammer«, das »Orakel von Delphi« oder eine »dorische Säule« untergebracht werden. So geht deutsche Lyrik vom Feinsten.

Der Moderator nannte Durs Grünbein einen »geborenen Satiriker«. Genau. Und Thomas Mann und Franz Kafka waren die geborenen Lyriker.

Warum Lawrence Ferlinghetti, der in den USA Mitbegründer der literarischen »Beat Generation« und ein Freund Allen Ginsbergs war, an einem derart drögen Hauptstadtkulturreklamespektakel teilnimmt, bleibt anfangs unverständlich, bis man am folgenden Abend, als seine eigene Lesung stattfinden soll, begreift, dass der über 80 Jahre alte Mann, der Jeans trägt und eine Baseballkappe auf dem Kopf hat, selbst nicht so genau weiß, unter welche Kulturbürokraten er geraten ist. Ihm sei der vorige Abend zu steif und »too earnest« gewesen, sagt er schmunzelnd, und er wolle dafür sorgen, dass seine Lesung ein wenig anders werde als jene am Tag zuvor. »So maybe it will be a little more funny tonight.«

Damit ihm aber dies keinesfalls gelingt, haben die Veranstalter ihn auf der Bühne zwischen zwei verkniffene deutsche Literaturverwaltungsbeamte gesetzt, die ihn keinen Satz zu Ende reden lassen. Von der »Untergrunddichtung« in den »Nischen und Zwischenräumen der Gesellschaft« faseln sie, von »Erkenntnistheorie« und »Selbstobjektivierung« und davon, wie »erfolgreich« sich seine Lyrikbände bis heute verkauften, während der Beatpoet selbst von Karl Marx, sexueller Befreiung und fernöstlicher Philosophie spricht. Nach seinem Drogengebrauch gefragt, antwortet er: »I never smoked dope till I met these Beat Clochards.« Auch seinen Witz verstehen sie nicht.

Nicht der Dichter Ferlinghetti, der eine Art anarchistischer Bohemien und Westcoasthippie geblieben ist, interessiert sie, sondern das literaturhistorische Denkmal Ferlinghetti, über dessen Werk an Ort und Stelle ein akademischer Diskurs geführt werden soll, und in der Folge reden sie, trunken von ihrem eigenen Fachwissen über die Beat Poetry der fünfziger und sechziger Jahre in den USA, beinahe ununterbrochen auf den wehrlosen Mann ein, bis es diesem irgendwann zu viel wird. »When do we cut that crap and read some poems?«, fragt er, und das Publikum dankt es ihm mit Zurufen und Applaus.

Doch nur gelegentlich kommt Ferlinghetti an diesem Abend dazu, seine Gedichte vorzulesen. Dazu steht er auf, begibt sich an den Rand der Bühne und rudert mit den Armen. »Poetry is not a sedentary occupation«, meint er und wirft einen verschmitzten Seitenblick auf die beiden sitzenden Literaturakademiker.

Als zwei Tage später neben experimentellen Lyrikern aus Russland der fast 80jährige Vater der konkreten Poesie, Eugen Gomringer, zu Gast ist, ergeht es ihm ähnlich wie seinem Kollegen Ferlinghetti. Kaum eine halbe Stunde Zeit lässt man ihm dafür, in rhythmischer und musikalischer Weise seine wunderbar reduzierten und verspielten Gedichtkonzentrate zu intonieren.

Warum sein Vortrag und der Auftritt der russischen Lautdichter im Haus der Stiftung Brandenburger Tor der Bankgesellschaft Berlin stattfinden, erklärt Frau Monika Grütters, die dem Haus vorsteht. Man hoffe, per Literaturaustausch die »Transformationsprozesse in Osteuropa beschleunigen zu können«, und sei froh darüber, künftig nicht nur osteuropäische Autoren in Deutschland zu haben, sondern auch deutsche Autoren nach Osteuropa schicken zu können. Das sei ein »unique selling point, wie man heute sagt«. Ja, wahrscheinlich sagt man bei der Bankgesellschaft Berlin so. Literatur dürfte diesen Leuten ziemlich schnuppe sein.

Wo man aber nun alte Hasen wie Gomringer und Ferlinghetti herangekarrt hat, will man auch dem »Sound der jungen Dichtergeneration« aus Berlin Gehör verschaffen, weswegen ein paar junge Leute, die sich für Lyriker halten, ein »gemeinsames Langgedicht über Berlin« szenisch auf der Bühne aufführen dürfen. Die »multimediale Inszenierung«, die selbstverständlich mindestens beabsichtigt, das »Lebensgefühl Berlins zu Anfang des 21. Jahrhunderts« zu »umreißen«, entpuppt sich als ein holpriges Laientheater, dessen Akteure öde Gymnasiastenlyrik herunterleiern.

Die Kulturstaatsministerin Christina Weiss nannte das Poesiefestival kraftmeierisch einen »festen publikumsstarken Kulturtermin in der deutschen Hauptstadt mit internationaler Ausstrahlung«. Fest, stark, Kultur, deutsch, Hauptstadt, international. Wir, die Deutschen, sind wieder wer, soll das wohl heißen. Wir haben die dicksten Kulturkartoffeln von allen.

Dass es, was Poesie angeht, kein von Kulturmanagern und Lyrikbeauftragten organisiertes Festival braucht, das einen Haufen etablierter Dichtergrößen und eine Schar kreuzbraver, handzahmer und natürlich hoch empfindsamer Berliner »Nachwuchsdichter« auf die Bühne stellt, versteht man spätestens, wenn man nach diesem ganzen Plumpaquatsch wieder einen Berliner U-Bahnwaggon betritt. Denn dort ist ein Gedicht zu finden, das kurz und schön ist und nichts kostet. Und es teilt mehr über Berlin mit als das gesamte Poesiefestival. Es heißt »Alarm« und geht so: »Betätigung führt im / Bahnhofsbereich zum Halt / Missbrauch strafbar.«