Frankreich, Deutschland und ihr kerniges Europa

Die europäische Verfassung bevorzugt bei Abstimmungen die einwohnerreichen Staaten. Die anderen ködert man mit dubiosen Ausnahmeregelungen. von stephen rehmke

Selten hat Gerhard Schröder so viel Zuspruch im Deutschen Bundestag erfahren wie am vergangenen Freitag. In seiner Erklärung würdigte er die zwei Wochen zuvor in Brüssel erzielte Einigung der EU-Staaten auf eine gemeinsame Verfassung als »historischen Kompromiss«. Nur die PDS lehnt das Vertragswerk ab. Alle anderen Parteien teilen Schröders Einschätzung des Verfassungskompromisses als »bedeutendes Ergebnis deutsch-französischer Zusammenarbeit«.

Es darf stark bezweifelt werden, dass auch Winston Churchill dieses Resultat vorschwebte, als er 1946 seinen programmatischen Ansatz für die »Vereinigten Staaten von Europa« mit den Worten einleitete: »Der erste Schritt bei der Neugründung der europäischen Familie muss eine Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland sein.« Tatsächlich hatte der einstige britische Premierminister die Hoffnung, dass in einem festen europäischen Gefüge ein erneutes Hegemonialstreben Deutschlands auf Dauer unterbunden werden könne. Ausgerechnet jenen Gedanken zitierte der deutsche Außenminister Joschka Fischer im Mai 2000, als er in einer Rede an der Berliner Humboldt-Universität für eine Erweiterung der Europäischen Union plädierte und den interessierten Studenten erklärte: »Die in Deutschlands Dimension und Mittellage objektiv angelegten Risiken und Versuchungen werden durch die Erweiterung bei gleichzeitiger Vertiefung dauerhaft überwunden werden.«

Etwa vier Jahre später war die Erweiterung der EU auf 25 Mitgliedsstaaten bereits beschlossene Sache. Nur die mittels eines umfassenden Verfassungsvertrages angestrebte »Vertiefung« drohte an dem Widerstand einiger mittlerer und kleiner Staaten zu scheitern, die das im Verfassungsentwurf modifizierte Abstimmungsverfahren unter den Mitgliedsstaaten ablehnten. Denn für die auf viele Kompetenzbereiche ausgedehnten Mehrheitsentscheidungen sollte zukünftig eine einfache Mehrheit der Regierungen ausreichen, wenn sie zugleich 60 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU repräsentierte.

Von diesem vehement von Frankreich und Deutschland eingeforderten demographischen Faktor profitieren vor allem die ohnehin schon wirtschaftlich dominierenden bevölkerungsreichen Nationen. Die übrigen Staaten akzeptieren hingegen einen erheblichen Souveränitätsverzicht, weil sie sich gegen viele Entscheidungen des Europäischen Rates und des Ministerrates, die unmittelbare Auswirkungen auf ihre nationale Politik haben, nicht mehr im gewohnten Maße werden sperren können.

Insbesondere die Regierungen von Polen und Spanien widersetzten sich dem in diesem Prinzip der »qualifizierten Mehrheit« angelegten Hegemonialstreben der großen Mitgliedsländer und verweigerten ihre Zustimmung zu dem Vertragswerk. Die deutschen Vertreter verschärften daraufhin den Druck auf die abtrünnigen Regierungen, indem sie unmissverständlich mit einem eigenständig und ungehindert operierenden Kerneuropa drohten. Den europäischen Nachbarn wurde offenbart, dass sich Fischers Rede an der Humboldt-Universität auch anders deuten lässt.

Als schließlich mit der Abwahl der Konservativen in Spanien der innenpolitisch angeschlagenen polnischen Regierung der Bündnispartner abhanden kam, war der Boden für den jetzigen Kompromiss bereitet. Dieser beinhaltet nun zwar mehr von den für die Europäische Union so typischen komplizierten Regelungsmechanismen, ändert aber an dem machtpolitischen Gehalt des Mehrheitsprinzips nicht viel. Lediglich die Schwellenwerte für eine qualifizierte Mehrheit wurden etwas erhöht. Hinter einem Beschluss müssen nun 55 Prozent der Mitgliedsstaaten -stehen, die zugleich 65 Prozent der Gesamtbevölkerung vertreten. Zudem wurden Ausnahmeregelungen mit illustren Namen wie »Emergency Break«, »Pasarelle« oder »Ioannia-Mechanismus« eingeführt, die die Beschlüsse der Regierungen zwar verzögern, aber letztlich nicht verhindern können. Eine erhöhte Schwelle von 72 Prozent gilt außerdem für Entscheidungen, welche die Staaten in den politisch sensiblen Bereichen der Außen- und Sicherheitspolitik, in Wirtschafts- und Währungsfragen und der gemeinsamen Innen- und Justizpolitik treffen wollen.

Neben diesem an hegemonialen Interessen orientierten Zuschnitt wird die EU ihr Erscheinungsbild auch durch neu geschaffene Institutionen ändern, von denen sich der Staatenverbund mehr Kontinuität im Inneren sowie einen stärkeren Einfluss auf das übrige Weltgeschehen verspricht. Nach dem Verfassungsentwurf bekommt der Europäische Rat, das aus den Staats- und Regierungschefs zusammengesetzte höchste Entscheidungsgremium der EU, einen hauptamtlichen Präsidenten, der die Union für je zweieinhalb Jahre führen und nach außen repräsentieren wird.

Sekundiert wird dem künftigen EU-Präsidenten dabei von einem europäischen Außenminister, der in Personalunion als Vizepräsident der EU-Kommission für den Ministerrat die auswärtigen Beziehungen der Union koordinieren wird.

Den beiden Amtsträgern kommt vor allem durch die geänderte Ausrichtung der so genannten Gemeinsamen Au-ßen- und Sicherheitspolitik (GASP) der Vertragsstaaten eine besondere Bedeutung zu. Die Maßnahmen der GASP sollen so fest in den Rahmen der EU eingebunden werden, dass diese zukünftig in diesem Bereich als Rechtspersönlichkeit auftreten und selbständig internationale Übereinkommen schließen kann. Unter diesen völkerrechtlichen Bedingungen wird die EU verstärkt als weltpolitische Akteurin wirken können. Um diese Rolle durch ihre Repräsentanten effizient nutzen zu können, werden die Mitgliedsstaaten nicht umhinkommen, sich auf eine einheitliche Außenpolitik zu einigen. Auch unter diesem Aspekt gewinnen die unterschiedlichen Gewichte der Nationalstaaten in den einzelnen Gremien der EU an Bedeutung.

Im Spätsommer soll die Unterzeichnung des überarbeiteten Verfassungsentwurfs erfolgen. Dann beginnt die zweijährige Ratifizierungsphase, die für das deutsch-französische Projekt noch einige Stolpersteine beinhalten kann. Insbesondere in den osteuropäischen Staaten formulierten die bei den Europawahlen sehr erfolgreichen Oppositionsparteien deutliche Kritik an den Regierungen, die dem weit reichenden Souveränitätsverlust zugestimmt hatten. Außerdem wird die Verfassung in etwa acht EU-Staaten einem Referendum unterstellt. Darunter befinden sich so bewährt europaskeptische Bevölkerungen wie die Dänen, die Iren und nach Blairs Bekunden womöglich auch die Briten.