Kalkulierter Wahnsinn

Die Einführung des Arbeitslosengeldes II führt die Ämter ins Chaos und bestraft die Betroffenen doppelt. von winfried rust

Am Anfang war alles so schön. Der Hartz erschien dem Schröder und versprach, dass er mit seiner Kommission die Arbeitslosigkeit, die große Geißel unserer Zeit, halbieren werde. Und der Hartz sprach Worte wie diese: »Die Jobcenter gehen von freien, mündigen und entscheidungsfähigen Kunden aus.« Und er gab dem Kanzler Tafeln in die Hand, und die waren aus Stein und beschrieben mit 13 Modulen. Und Schröder stieg hinunter zu seinem Volk und sagte es ihm.

Doch nun drohen die neuen Jobcenter in Hader und Wahnsinn zu versinken. Für die aufwändige Umstellung auf das Arbeitslosengeld II soll eine Software verwendet werden, von der es bislang nur eine Schulungsversion gibt. Die kommunalen Daten zur Sozialhilfe müssen in der Bundesagentur für Arbeit (BA) von Hand eingegeben werden. Währenddessen werden zwei Millionen AntragstellerInnen für das Arbeitslosengeld II ein paar Nachfragen zu ihren 17seitigen Formularen stellen. Der Wissensdurst der Agentur für Arbeit ist größer denn je, aber wie soll man auf die Frage antworten: »Haben Sie Gemälde?« Zu allem Überfluss sind früher oder später 500 000 empörte ehemalige EmpfängerInnen von Arbeitslosenhilfe in den Leistungsabteilungen zu beruhigen, deren Anträge abgelehnt wurden.

Warum macht die Regierung das? Um Geld zu sparen? Zuerst einmal wird viel Geld ausgegeben. Im Entwurf für den Haushalt war die Reform mit 24,5 Milliarden Euro veranschlagt. Die Umstellung auf die Zusammenarbeit mit den Kommunen, die neuen Jobcenter, die Umstellung auf die neue Software, die Neubearbeitung aller Arbeitslosenhilfeanträge sind nicht umsonst zu haben. Heinrich Alt, Vorstandsmitglied der BA, konstatiert, dass er für die Auszahlung respektive Abwicklung des neuen Arbeitslosengelds II 24 000 neue MitarbeiterInnen benötige. Auch wird der Zuschuss an die Kommunen von 2,5 auf 3,2 Milliarden Euro aufgestockt. Sollte diese Summe die Kosten nicht decken, muss kurzfristig eine Zugabe folgen. Außerdem wird in der SPD der Ruf nach einer sozialen Abfederung der eigenen Reformen laut. Der knapp kalkulierte Haushalt 2005 droht verfassungswidrig zu werden.

In manchen Kreisen wird Hartz IV schon »HIV« abgekürzt. Viele Details sind noch unbekannt, etwa, wie viele Arbeitslose künftig eine Sachbearbeiterin oder ein Sachbearbeiter zu betreuen hat. Die Jobzentren brauchen neue Räume, neue Teams, und die MitarbeiterInnen müssen geschult werden. Die Sammlung von Ungewissheiten erinnert an ein anderes Bravourstück rot-grünen Reformhandwerks. Und richtig, der Verantwortliche bei der Telekom für die neuen Computerprogramme ist Konrad Reiss, vormals Mittler der Lkw-Maut. In dieser Logik wäre Manfred Stolpe dafür prädestiniert, die Schwierigkeiten bei der Einführung der Reform zu überwinden und den Betroffenen zu erklären, was auf sie zukommt.

Das neue »Sozialgesetzbuch Zweites Buch« (SGB II) über die Zusammenlegung von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe eröffnet im ersten Paragraphen: »Die Grundsicherung soll die Eigenverantwortung von Erwerbsfähigen und Personen, die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft leben, stärken und dazu beitragen, dass sie ihren Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln bestreiten können.« Die Betonung liegt dabei auf der Eigenverantwortung, während die strukturelle Bedingtheit von Arbeitslosigkeit in den Hintergrund rückt.

»Grundsicherung« meint, dass nur der minimale Grundstock der Existenzsicherung getragen werden soll. Im gesamten SGB II ist die Angleichung an das Bundessozialhilfegesetz zu erkennen. Die Sozialhilfe, früher verschämt »Fürsorge« genannt, versteht sich als Hilfe bei der Überbrückung von Ausnahmesituationen, ihre Auszahlung ist an restriktive Bedingungen und an Kontrollen geknüpft. Zur Klärung der Vermögensverhältnisse »behalten wir uns auch Hausbesuche vor«, sagt das BA-Vorstandsmitglied Heinrich Alt und macht deutlich, dass man gedenkt, an diese Praxis anzuknüpfen.

Auch die Akzentuierung der »Bedarfsgemeinschaft« stammt aus dem Bundessozialhilfegesetz. Danach müssen Erwerbslose, die in die Zuständigkeit der Sozialhilfe fallen, zuerst von nahen Verwandten unterstützt werden. Das drängt Frauen in vielen Fällen wieder in die Abhängigkeit vom Ehemann und lässt die Familie als repressive Notgemeinschaft aufblühen. Da hilft auch keine Gleichberechtigungsbeauftragte.

Aus den Paragraphen, die das zu berücksichtigende Einkommen, die Freibeträge bei Erwerbstätigkeit und das zu berücksichtigende Vermögen behandeln, wird ersichtlich, dass neue Segmente der Arbeitslosen an die Armutsgrenze herangeführt werden. Durch die Absenkung der Grenze des Vermögens, das als Alterspolster dienen darf, steht eine weitere Langzeitfolge der Hartzreform schon fest: eine neue Altersarmut.

Darüber hinaus stellt Paragraph 2 unter der Überschrift »Grundsatz des Forderns« fest, dass den Erwerbslosen fast jede legale Arbeit zumutbar ist. Langzeitarbeitslose müssen auch Jobs zu niedrigsten Löhnen annehmen. Sogar Tätigkeiten für einen Euro pro Stunde können bei Bezug des ALG II nicht abgelehnt werden.

Der Niedriglohnsektor wird somit in dreierlei Hinsicht gefördert. Die ans Existenzminimum gedrängten Arbeitslosen dürfen keinen Job mehr ablehnen, weil die Zumutbarkeitsgrenze von der BA abgesenkt wurde. Unternehmer werden das ausnutzen und billige Arbeitskräfte für niedere Tätigkeiten einstellen. Und die verbliebenen so genannten Normalarbeitsverhältnisse werden dem Konkurrenzdruck der Billigjobs kaum standhalten können.

Der im SGB II festgeschriebene Überbrückungscharakter der Leistungen leugnet die strukturell bedingte Existenz von Langzeitarbeitslosen. Denen wird vorgegaukelt, dass sie, sofern sie sich anstrengen, nur ein paar Wochen bis zum nächsten tollen Job zu überbrücken haben. Wer es nicht schafft, aus dem Provisorium herauszukommen, wird mit doppelter Verachtung gestraft: wegen der Arbeitslosigkeit an sich und wegen des Verbleibs im Provisorium. In der »Bundesagentur Deutschland« sind solche Leute ein Schrecken für sich selbst und für andere. Das ist die psychologische Begleitmusik der Niedriglohnspirale.

Die Reformer müssen verrückt sein? Nach Michel Foucaults »Wahnsinn und Gesellschaft« entsteht Wahnsinn aus der Abspaltung der Krankheit von ihrer Zugehörigkeit zum normalen Leben. Und Wahnsinn in seiner allgemeinsten Form sei »nichts anderes als das Fehlen einer Arbeit«. Beim Wahnsinn geht es wie bei der Exponierung von »Arbeitslosigkeit« um einen Ausschluss, der den bestehenden Gesellschaftsentwurf konstituiert. Das Auszuschließende wird auf den Fixpunkt eines »vernünftigen« Lebensentwurfes, der von Lohnarbeit geprägt ist, ausgerichtet. Die Krankheit wird von der Zugehörigkeit zum Leben als Abweichung ausgeschlossen. Entsprechend sind in den Kursen und Maßnahmen des Arbeitsamtes viele Metaphern des Heilens zu hören. Außerdem verkennt die These vom Reformwahnsinn den Zwang der Verhältnisse, dem die Politik zu folgen hat, etwa die Koppelung von Einkommen an Lohnarbeit.

Das bisherige System stellte die Langzeitarbeitslosen ruhig, so dass sie die fehlende Wertschätzung, die erzwungene Passivität, Ämterschikanen und ihre knappe Kasse erduldeten. Jetzt wird sich etwas bewegen, bloß in Richtung verschärfter Konkurrenz, Niedriglohnsektor und individualisierter Leidensgeschichten.

Das SGB II als Offenbarung der Sozialstaatlichkeit: »Welche ich lieb habe, die strafe und züchtige ich«, und die Schwachen halten die Backen hin. So lange, bis die siebente Posaune erklingt. Dann könnte es heißen: »Die Völker sind zornig geworden; und es geschahen Blitze und Stimmen und Donner und Erdbeben und ein großer Hagel.«