Schwarz, weiß, jüdisch

Richard Powers’ Roman »Der Klang der Zeit« ist ein bisschen reaktionär, aber trotzdem schön. von maik söhler

Wie oft hat man solche Sätze schon gehört: »Amerika lebt in der Gegenwart, Europa in der Vergangenheit.« Oder »weil die USA sich der Zukunft widmen, können sie die Vergangenheit leicht nehmen«. Ich habe diese und ähnliche Aussagen nie verstanden und dachte bisher, das liege an meiner mangelnden Kenntnis von Teilen der amerikanischen Kultur. Denn solche Sätze fallen oft, wenn es in den Feuilletons um Architektur, Musicals oder Kunst im Allgemeinen geht. Manchmal handelt es sich auch um die Politik oder die Philosophie in den USA, die irgendwas mit Pragmatismus zu tun haben sollen, und davon verstehe ich ebenfalls nicht viel.

Richard Powers hat mich nun aufgeklärt. Nach der Lektüre seines neuen Romans »Der Klang der Zeit« weiß ich zwar immer noch nicht genau, was jene Sätze bedeuten, aber dass sie mehr mit Gesellschaft als mit Architektur zu tun haben, dass sie alles andere als pragmatisch sind und dass sie falscher kaum sein könnten, kann als so gut wie sicher gelten. Denn zumindest der von ihm beschriebene Teil der schwarzen Bevölkerung in den USA kennt die Vergangenheit; es ist eine, die maßgeblich von Sklaverei, Ausbeutung, Rassismus und Unterdrückung geprägt und die untrennbar mit der Gegenwart samt Ausbeutung, Rassismus und Unterdrückung verbunden ist.

»Der Klang der Zeit« ist ein amerikanischer Familienroman, und er ist es zugleich im besten wie im schlechtesten Sinne. Im besten Sinne bedeutet, dass eine Story mit einer überschaubaren Anzahl an Protagonisten mehr oder weniger stringent, wenn auch nicht immer chronologisch, entwickelt wird. Im schlechtesten Sinne bedeutet, dass man Familiengeschichten mögen muss, damit einen all die damit verbundenen Emotionen nicht gleich zum nächsten Buch greifen lassen. Soll heißen: Powers präsentiert einiges, was pathetisch, rührselig und kitschig ist.

Erzählt wird die Geschichte der Familie Strom; sie spielt vor allem in den vierziger, fünfziger und sechziger Jahren in New York und sie ist selbst für den bekanntesten melting pot der Welt ungewöhnlich. Delia Strom, geborene Daley, ist eine begnadete Sängerin, eine schwarze Sängerin. Und David Strom, ein vor dem Nationalsozialismus geflohener deutscher Physiker, ist Jude. New York ist in jener Zeit einer der wenigen Orte in den USA, an denen diese Ehe und der gemeinsame Alltag überhaupt möglich sind. In vielen Bundesstaaten gilt ihre Ehe als Verbrechen und hätte hohe Haftstrafen zur Folge.

Die Stroms haben drei Kinder, Jonah, Joey und Ruth, die sich untereinander gelegentlich liebevoll als »Mischlinge« und »Mulis« hänseln, obwohl sich ihre Hautfarben deutlich unterscheiden. Jonah hat die hellste Haut, Ruth die dunkelste, allen gemeinsam ist eine Vorliebe für klassische Musik, vor allem für Gesang, und, zumindest in der Kindheit, ein Familienleben, in dem Schwarz und Weiß nichts als die Farben der Klaviertasten sind. Ihre Eltern unterrichten sie zu Hause, und die wichtigste Lektion ist, dass die Kinder werden sollen, was immer sie wollen, dass die Hautfarbe keine Rolle spielt, dass sie frei sind.

Jonah wird klassischer Sänger; Joey begleitet seinen Bruder über lange Zeit am Klavier; Ruth schließt sich den Black Panthers an. Für Momente sind sie wirklich frei, wenn auch nur frei in ihrer Entscheidung, dies zu tun und jenes zu lassen. Doch die Konsequenzen ihrer Entscheidungen lassen sie schnell wieder verlieren, was ihnen als Freiheit erschien.

Nach dem Tod der Mutter bleibt David Strom einsam zurück, die Familie seiner Frau hat sich von ihm abgewandt, weil er am US-Atomwaffenprogramm mitarbeitete und weil er sich weigerte, seinen Kindern eine »schwarze Identität« zu vermitteln. Ruth bricht aus ähnlichen Gründen mit ihm, Jonah weilt schon länger in Europa und wird dort als Startenor gefeiert. Allein Joey besucht den Vater gelegentlich, lauscht seinen physikalischen Ausführungen über die Zeit und macht sich darüber seine Gedanken: »Wie konnte etwas so unbegreiflich Fernes für ihn so wichtig sein? (…) Im Grunde war es eine harmlose Leidenschaft, die er pflegte. Sie machte niemanden zum Sklaven und profitierte nicht von fremdem Elend. Aber sie linderte dieses Elend auch nicht und befreite keine einzige Seele.«

Joey ist der Ich-Erzähler im »Klang der Zeit«. Eine gute Wahl, denn er sitzt zwischen allen Stühlen, und das verschafft dem Roman ein zusätzliches Spannungsmoment. Sein Bruder hat eine Karriere in der Welt der weißen Hochkultur gewählt, seine Schwester hat sich dem schwarzen Widerstand angeschlossen, die Eltern waren Idealisten, auf den Straßen der amerikanischen Großstädte aber wachsen die politischen Auseinandersetzungen zwischen Schwarz und Weiß an.

Joey wird, nachdem sein Bruder nach Europa ging, zuerst Barpianist, später besucht er Jonah in Belgien, singt mit ihm zusammen, findet sich aber nicht zurecht: »In einer wallonischen Zeitschrift las ich, dass bei einem durchschnittlichen amerikanischen Mann die Wahrscheinlichkeit, dass er ins Gefängnis kam, größer war als die, dass er in ein Kammerkonzert ging.« Er kehrt in die USA zurück und legt sich endlich fest, zusammen mit seiner Schwester baut er eine Schule für schwarze Kinder auf und unterrichtet dort Musik. Zum ersten Mal in seinem Leben wirkt er zufrieden.

»Der Klang der Zeit« ist ein guter Roman. Seine Struktur und Sprache sind klar und schön, die Figuren wurden hervorragend gewählt und sind weder über- noch unterzeichnet, die Geschichte, obwohl sehr konventionell erzählt, gehört zu den besten der vergangenen zehn Jahre. Wer nichts von Musik versteht, wird vieles erfahren. Wer etwas davon versteht, auch. Und: »Der Klang der Zeit« ist ein konservativer, ja fast schon ein reaktionärer Roman. Die Familie ist für den Einzelnen der letzte Ort der Zuflucht, niemand kann seiner Abstammung entkommen, wer es dennoch versucht, verliert seine Identität. Es herrscht ein unerbittlicher Determinismus vor, gegen den selbst die orthodoxeste Auslegung des Marxismus-Leninismus als Welt der tausend Möglichkeiten wirkt. Am Ende, als die letzte Zeitschleife geschlossen wird, kommt man sich vor wie in Isabel Allendes »Geisterhaus«.

Doch wo Allende alle mit allen versöhnt, weiß Powers sehr genau um die Widersprüche einer Welt, der die Hautfarbe immer noch mehr bedeutet als die individuellen Fähigkeiten. Viel Raum nehmen Passagen über alle Varianten des Rassismus ein – von der alltäglichen Diskriminierung bis zum Lynchmord, von der Schule bis zur Justiz.

Auch das Glücks- und Erfolgsversprechen, das die bürgerliche Gesellschaft so sehr betont und das sie schon seit Ewigkeiten aus der Realität in die Verfassungen und in die Kunst abgeschoben hat, findet in seinem Roman nur begrenzt Platz. Versöhnung im Großen ist unmöglich, Glück findet sich, wenn überhaupt, nur im Kleinen. Trotz seiner Betonung des Familiären und des Ersatzfamiliären der schwarzen Communities werden auch deren negative Seiten nicht verschwiegen: Die schwarzen jüdischen Stroms finden nicht nur in der Welt der Weißen Ausgrenzung, Sexismus und Antisemitismus. Allein, folgt man Powers, so gehört das eben zum »Klang der Zeit«, es hört sich nicht gut an, aber zu ändern ist es auch nicht.

Das ist reiner Pessimismus. Und der hat ja auch irgendwas mit den USA und Europa sowie mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu tun. Aber was? Vielleicht nur, dass er vom Pragmatismus nichts wissen will. Der Rest ist Stille.

Richard Powers: Der Klang der Zeit. Aus dem Amerikanischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M., 2004. 765 S., 22,90 Euro