Demografie schadet nie

Kinderlose sollen mehr Geld in die Pflegekasse einzahlen. Das bedeutet einen Schritt weg vom so genannten Solidarsystem, hin zur Bevölkerungspolitik. von regina stötzel

Gesetze sind bekanntlich Auslegungssache, und Gerichtsurteile fallen selten aus dem Rahmen, den der politische Mainstream ihrer Zeit vorgibt. Als das Bundesverfassungsgericht am 3. April 2001 urteilte, es sei nicht rechtens, wenn »Mitglieder der sozialen Pflegeversicherung, die Kinder betreuen und erziehen und damit neben dem Geldbeitrag einen generativen Beitrag zur Funktionsfähigkeit eines umlagefinanzierten Sozialversicherungssystems leisten, mit einem gleich hohen Pflegeversicherungsbeitrag wie Mitglieder ohne Kinder belastet werden«, empörte sich niemand darüber.

Bis zum Jahr 2005 ließ das Gericht der Regierung Zeit, das Urteil in die Tat umzusetzen. In der vergangenen Woche einigten sich nunmehr »Pflegeexperten« der SPD und der Grünen darauf, im Januar den Beitrag zur Pflegeversicherung für Kinderlose ab 23 Jahre um 0,25 Prozent bis zur Bemessungsgrenze von 3 487,50 Euro Einkommen, also um maximal 8,72 Euro zu erhöhen. Na und? Der Betrag scheint gering, die Familie liegt der Nation am Herzen, und alle wollen im Alter irgendwie versorgt sein. Also wird allenfalls darüber debattiert, ob die Kinderfrage nach den Angaben auf der Lohnsteuerkarte oder nach der Erziehungstätigkeit zu beantworten sei und ob Paare dagegen klagen könnten, die aus medizinischen Gründen keinen Nachwuchs in die Welt setzen können.

Die Pflegeversicherung, wie auch die Krankenversicherung, wurde einmal paritätisch, also zu gleichen Teilen von den Unternehmern und den Lohnabhängigen finanziert. Davon kann man bei all den Zuzahlungen und der Praxisgebühr schon nicht mehr sprechen. Mit der »Privatisierung« des Zahnersatzes und der einseitigen Beitragserhöhung fürs Krankengeld wird der Zuschlag für Kinderlose ein weiterer Schritt sein, der von der paritätischen Finanzierung wegführt.

Indem eine Bemessungsgrenze festgeschrieben wird, werden diejenigen, die richtig viel Geld verdienen, quasi von der Regelung ausgenommen. Denn die können über den Höchstsatz von 8,72 Euro nur lachen.

Weiterhin stellt sich die Frage, warum die Altersgrenze von 23 Jahren gewählt wurde. Schließlich sind Mädchen wie Jungen heutzutage meist mit 13 Jahren geschlechtsreif, die Mütter erstgeborener Kinder aber durchschnittlich fast 29 Jahre alt. Warum also die 23? Hatten die Illuminaten ihre Finger im Spiel? Oder möchte die Regierung, dass man sich in diesem Alter allmählich über seine Fortpflanzung Gedanken macht?

Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts steht, dass Personen, »die Kinder betreuen und erziehen«, nicht in gleicher Weise belastet werden dürfen. Nach der neuen Regelung brauchen jedoch auch die Eltern erwachsener Kinder nicht mehr zu zahlen. Es geht also nicht um die Entlastung in einer für Mütter und / oder Väter möglicherweise finanziell schwierigen Zeit. Man fühlt sich eher an Ideen von Unionsmitgliedern erinnert, den Erhalt der vollen Rente von der Zahl der Kinder abhängig zu machen. Das schlug zum Beispiel Angela Merkel im vergangenen Jahr vor und berief sich auf den Präsidenten des Instituts für Wirtschaftsforschung in München, Hans-Werner Sinn, Vater von drei Kindern, der schon vor Jahren erklärt hatte, nur Paaren, die mindestens drei Kinder aufzögen, solle im Alter die volle Rente ausgezahlt werden.

Um den Ausstieg aus dem Solidarsystem, nach dem auch die Jungen für die Alten sorgen sollten, unabhängig vom gewählten Lebensentwurf, widerstandslos über die Bühne zu bringen, werden zwei Mittel bemüht: das Horrorszenario einer »vergreisten« Gesellschaft und eine Rhetorik, die stets beschwört, die einen lebten »auf Kosten« der anderen. Was man, bezogen auf Faulenzer und Drückeberger, längst kennt, lautet jetzt so: »Wer, als Kinderloser, die halbe Million Euro (Existenzminimum), die zum Großziehen von drei Kindern mindestens nötig wäre, im Frühling des Lebens für Tauchurlaube ausgibt, kann nicht im Herbst die Sparbücher seiner Eltern plündern; die werden überdies leer sein.« (Die Zeit)

Es ist ja auch schlimm: Im inzwischen weitgehend abgeschotteten Deutschland in der »Festung Europa« wird nicht genug dafür getan, den Bestand des Volkes zu wahren. Kaum eine Zeitung hat nicht längst Dossiers oder Serien zum bevorstehenden »demografischen Wandel« veröffentlicht. »Das Boot ist voll«, hieß es früher. Jetzt fürchtet man sich vor der »Greisenrepublik« und hört die »demografische Zeitbombe« ticken.

Der in solchen Fragen stets zu Rate gezogene Bielefelder Bevölkerungsforscher Herwig Birg proklamierte deshalb bereits im vergangenen Sommer in der vom Bundestag herausgegebenen Zeitung Das Parlament eine »Bevölkerungspolitik in der Demokratie«, welche die »in Deutschland seit zweieinhalb Jahrzehnten praktizierte Bevölkerungspolitik durch Einwanderungen überflüssig macht«. Auch Bundesfamilienministerin Renate Schmidt (SPD) bekannte sich zu einer »bevölkerungsbewussten Familienpolitik«, und die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Katrin Göring-Eckardt, sagte Anfang April: »Wir müssen offen dazu stehen, dass wir mehr Kinder wollen.«

Tatsächlich wird sich die Bevölkerungsstruktur in den nächsten Jahrzehnten längst nicht in dem Maße verändern, wie sie es im vergangenen Jahrhundert getan hat. Nach einer Statistik von Verdi kamen im Jahr 1900 auf eine Person über 65 Jahre etwa 12,4 Personen unter dieser Altersgrenze, heute sind es 3,9 und im Jahr 2050 werden es 2,0 sein. Doch sorgen wegen der strukturellen Massenarbeitslosigkeit bereits jetzt nur 2,7 Erwerbstätige für einen Rentner. Und das muss wegen der im Laufe der Zeit enorm gestiegenen Produktivität kein Problem darstellen.

Auch ist es hanebüchen, für die leere Kasse der Pflegeversicherung demografische Faktoren verantwortlich zu machen: Seit der Einheit seien noch nie so wenige Leute in Rente gegangen wie im Jahr 2002, erstmals weniger als eine Million, schrieb die Financial Times Deutschland. »Selten gab es umgekehrt so verhältnismäßig viele Menschen, die Bruttoinlandsprodukt und Rentenbeiträge potenziell steigern oder steigern könnten. Der stärkste Baby-Boomer-Jahrgang 1964 ist heute 40 Jahre alt und steckt mitten im Berufsleben.«

Wer nicht arbeiten will, soll auch keine Sozialhilfe bekommen, wer keine Kinder in die Welt setzt, keine Rente. Das ist die gleiche Stammtischlogik. Und das Szenario der Greisenrepublik dient dazu, das Sozialsystem weiter zu demontieren. Wenn’s gleichzeitig der Vermehrung des Volkes dient – umso besser!