Ein neues Leben

In letzter Zeit wandern wieder mehr junge Juden aus deutschsprachigen Ländern nach Israel aus. Die Organisation Noam in Tel Aviv betreut sie. Eine Reportage von kerstin eschrich

An der Wand des Büros hängt etwas verloren ein kleines Fähnchen des Fußballvereins FC Bayern München. »Deutsche sind fußballfixiert. Einige Münchner haben einen Bayern-München-Fanclub gegründet«, sagt Shirin und schüttelt ein bisschen den Kopf. Die Münchner, von denen sie spricht, sind einige der Leute, die von ihrer Arbeitsstelle Noam, der offiziellen Organisation für die Betreuung von deutschsprachigen Neueinwanderern in Israel, unterstützt werden.

Das Büro befindet sich im Zentrum von Tel Aviv in einer Fußgängerzone. Zweimal in der Woche findet dort ein Kunstmarkt statt. Um ihn zu betreten, muss man eine Barriere passieren, und die Taschen werden kontrolliert. In der Nähe des belebten Marktes ist vor einiger Zeit ein Sprengsatz explodiert. Vor dem Haus macht ein Trompeter Straßenmusik.

Die Melodien dringen bis in den zweiten Stock, ins Büro von Noam. Shirin meint, sie höre die Musik schon gar nicht mehr. Sie ist 26 Jahre alt und erwartet gerade ihr zweites Kind. Den kleinen Bauch kann man sehen, wenn sie steht. Bei Noam ist sie vor allem für die Jobbörse zuständig. Keine leichte Aufgabe bei der schwierigen Arbeitsmarktsituation in Israel. Seit etwas über einem Jahr gibt es die Jobbörse, bisher konnte sie etwa 60 Stellen vermitteln. »Mir ist es wichtig, dass die Menschen eine Arbeit bekommen. Ansonsten geben so viele auf und gehen wieder zurück«, sagt Shirin. Sie versucht, Kontakt zu deutschen Firmen aufzunehmen, die in Israel ansässig sind, oder zu israelischen Firmen in der Schweiz oder Österreich. »Wir vermitteln alles, von Babysittern bis zu Akademikern. Manche wollen den gleichen Job machen wie dort, wo sie herkommen. Manche entscheiden sich aber bewusst für einen Wechsel, eine Veränderung, sie wollen in jeder Beziehung ein neues Leben anfangen.«

Deutsche kommen in den meisten Fällen nicht aus finanziellen Gründen, wie etwa Migranten aus Äthiopien. Allerdings weiß Shirin aus den Erfahrungen der vergangenen Jahre, dass die schwierige wirtschaftliche Situation in Deutschland bewirkt, dass die schlechte Wirtschafts- und Sicherheitslage in Israel leichter akzeptiert wird.

Sie arbeitet in dem Büro zusammen mit ihrer Kollegin Keren. Dachorganisation ist die Jewish Agency, die alle Auswanderungen nach Israel organisiert. Ende 1996 wurde Noam von dem Historiker Awi Blumstein gegründet. Die Organisation hat es sich zum Ziel gesetzt, deutschsprachigen Einwanderern zu helfen, sich in Israel zurechtzufinden, vor allem die bürokratischen Hürden zu überwinden. »Wir nehmen eine Sprungbrettfunktion für die Neueinwanderer wahr und wollen ihnen ein Gefühl von Zuhause geben«, erläutert Blumstein. Von Anfang an hat Noam eng mit den Organisationen der Jeckes zusammengearbeitet.

Die Bezeichnung »Jeckes« für Israelis deutscher Herkunft, so wird von Israelis gerne grinsend erzählt, setzte sich durch, da Juden aus Deutschland, die während des Nationalsozialismus flohen, dadurch auffielen, dass sie auch in glühender Hitze daran festhielten, korrekt gekleidet mit Jacke auf der Arbeit – bspw. beim Straßenbau – zu erscheinen. Die alten Jeckes waren überrascht von dem Zuspruch, den die Auswanderung nach Israel bei jungen Juden aus Deutschland findet. »Wir sind die Kinder und Enkel der Generation, die den Holocaust überlebt hat und dann in Deutschland kleben geblieben ist. Wir wandern nach Israel aus, um das Land aufzubauen oder einfach weil wir weiter unseren Spaß haben wollen«, sagt Blumstein und fügt hinzu: »Ich habe mir diesen Traum auch erfüllt. Meine Familie lebt weiterhin in Deutschland.«

Im vergangenen Jahr wandten sich 60 Menschen aus deutschsprachigen Ländern an Noam. Die meisten von ihnen kamen aus Deutschland. Die Mehrzahl der Neueinwanderer ist zwischen 20 und 50 Jahren alt. Etwa gleich viele Männer wie Frauen entschließen sich zur Auswanderung. Allerdings mehr Alleinstehende als Familien, erklärt Keren, die unter anderem für die Statistiken bei Noam zuständig ist. Die meisten Immigranten sind Akademiker. Jeder Jude, der zumindest einen jüdischen Großelternteil nachweisen kann, hat das Recht, nach Israel auszuwandern. Der Staat versteht sich als Zufluchtsort für alle Juden. Pro Jahr entscheiden sich etwa 300 Juden aus deutschsprachigen Ländern für die Auswanderung.

Die Gründe sind unterschiedlich. Immer mehr geben aber Antisemitismus – vor allem arabischen Antisemitismus, wie Keren betont – als Grund für die Immigration an. Viele wollen nicht, dass ihre Kinder in einer Gesellschaft aufwachsen, wo sie als Juden oder Ausländer beschimpft werden, ergänzt Shirin.

Keren erzählt, dass sie in Berlin immer wieder Schwierigkeiten bekam. Sie lebte im so genannten Sozialpalast in der Pallasstraße. »Alle Briefe, die aus Israel kamen, wurden aufgebrochen. Wenn ich mit einer israelischen Zeitung über den Hermannplatz lief, wurde ich beschimpft und bespuckt. Ich lass’ es mir nicht gefallen, wenn arabische Jugendliche in Deutschland mir sagen, ich soll den Davidstern abnehmen. Das Problem ist, dass viele Messer mit sich herumtragen. Da ich in West-Berlin wohnte, hatte ich kein Problem mit Nazis, Grund für die Auswanderung war arabischer Antisemitismus«, sagt sie bestimmt. Auch von »offenen, multi-kulti-pc-Linken«, ist Keren enttäuscht. »Woran ich noch heute ständig denken muss, ist, dass mir von denen gesagt wurde, ich sei selbst schuld, da ich mit dem Tragen israelischer oder jüdischer Symbole diese antisemitischen Angriffe provozieren würde.« 

Bei Shirin hatte die Auswanderung dagegen vor allem familiäre Gründe. Sie kam vor über sechs Jahren von Frankfurt am Main nach Israel. »Mein Mann war mein Zionismus«, sagt sie lachend. Sie hat ihn, einen Israeli, in Deutschland kennen gelernt, als sie 15 war. Nach ihrem Abitur sind sie zusammen nach Israel gegangen. »Ich weiß, dass es für mich die richtige Entscheidung war. Leute, die einwandern wollen, rufen an und fragen mich, ob es besser ist, in Israel zu leben, und ich erkläre ihnen dann, dass man das nicht sagen kann. Es ist vor allem ganz, ganz anders als in Deutschland«, sagt sie ruhig und betont: »Man kann hier nicht sein kleines Deutschland leben. Das muss ihnen klar sein.«

Als Beispiele für das andere Leben in Israel fallen ihr vor allem Kleinigkeiten ein. Die fehlenden Teppichböden, die im Winter ein Problem darstellen, ein anderer Umgang im Straßenverkehr, oder dass es keine Warteschlangen gibt, in die man sich ordentlich einreihen kann. Am schlimmsten und abschreckendsten sei aber die chaotische Bürokratie. Kleinigkeiten, die Menschen – neben den existenziellen Schwierigkeiten wie fehlender Arbeit und Wohnung – dazu bringen, aufzugeben und wieder zurückzugehen. Natürlich spielt auch die ständige Bedrohung durch Terroranschläge eine Rolle

»Mir tut es um jeden leid, der zurückgeht«, sagt Keren, und Shirin nickt zustimmend. »Manche gehen schon wieder nach zwei Tagen in einem Einwandererzentrum. Klar, es ist dort nicht toll, aber es ist billig, und man hat Zeit, sich etwas zu suchen«, beklagt Shirin, und dann wird sie lebhaft. »Es kommen Leute hierher, ohne jemals vorher in Israel gewesen zu sein. Sie sind mit einem Idealbild aufgewachsen, sie glauben, dass sie mit offenen Armen empfangen werden. Sie reden von Israel wie von ihrer großen Liebe. Aber so einfach ist es nicht.«

Fünf Monate kann jeder Einwanderer an einem bezahlten Hebräisch-Kurs teilnehmen. Die Teilnahme wird staatlich gefördert. Wer regelmäßig teilnimmt, erhält ein kleines Taschengeld. Man kann davon nicht leben, aber das Taschengeld ermöglicht den Anfang, damit kann man eine billige Miete bezahlen, wie etwa in den Einwanderungszentren. Keren und Shirin haben beobachtet, dass die große Krise etwa nach einem halben Jahr kommt. Wenn sich bis dahin nicht einiges geklärt hat im Hinblick auf Job und Wohnung und die Sehnsucht nach den Eltern und den zurückgelassenen Freunden zu groß wird, gehen viele wieder zurück.

Auch Keren, die einen sehr selbstbewussten Eindruck macht, hatte am Anfang große Probleme in Israel. Sie kam 1997 und schaffte es trotz aller Bemühungen nicht, Fuß zu fassen. Auch bei Noam konnte man ihr damals nicht helfen. »Ich hatte eine teure Wohnung, die Mieten sind hier doppelt so hoch wie in Deutschland, und keinen Job. Da bin ich dann unter Tränen zurück nach Berlin gegangen. Ein Jahr bin ich dort geblieben, das war vor vier Jahren«, sagt sie und man merkt ihr noch an, wie schwer es ihr gefallen ist.

Nach einem Jahr ging sie zurück und bekam eine halbe Stelle bei Noam. Das war ein Anfang. Aber auch davon kann sie nicht leben. Sie arbeitet zusätzlich als Sekretärin bei Awi Blumenstein und als eine Art Kindermädchen für ein zehn Jahre altes Mädchen. »Hier gibt es kein soziales Netz, das dich auffängt, daher habe ich in Israel auch eine Existenzangst, die ich so nicht aus Deutschland kenne. Du musst dein Lebensniveau auf jeden Fall nach unten schrauben. Aber wenn du wirklich hier leben willst, bist du bereit, vieles dafür zu tun. Natürlich nicht als Obdachloser auf der Straße leben, aber ansonsten fast alles«, erklärt sie entschlossen und fügt hinzu: »Ich fühle mich unglaublich wohl in Israel.«