Politik der Emotionen

Vorgetäuschter Übergriff in Paris von bernhard schmid, paris

Hinterher ist man immer klüger, oder man tut zumindest so, als ob. Einige französische Zeitungen und Radiosender warnen nunmehr vor unbedachtem Auslösen von Emotionen durch voreilige Berichterstattung, nachdem halb Frankreich sich über Berichte von einer besonders spektakulären antisemitischen Gewalttat empört hatte. Erste Demonstrationen hatten bereits stattgefunden; die Kommunistische Partei rief zu einer Kundgebung im Pariser Stadtteil Belleville auf.

Auf allen Kanälen war mehrere Tage lang über den Angriff auf die 23jährige Marie-Léonie und ihr ein Jahr altes Baby in einem Pariser Vorortzug berichtet worden. Eine antisemitisch motivierte Aggression: Nach den Schilderungen der Angegriffenen hätten sechs junge Männer, die Marie Léonie als »maghrebinischer und schwarzafrikanischer Herkunft« beschrieb, sie zunächst ausrauben wollen. Doch als sie ihren Personalausweis fanden und sie wegen einer alten Adresse fälschlich für eine Jüdin hielten, so die Schilderung, hätten die 15- bis 20jährigen Täter sich mit Vehemenz auf sie gestürzt. Widersprüche in der Aussage des Opfers weckten das Misstrauen der Ermittler. Die junge Frau hat mittlerweile gestanden, den Überfall auf sich selbst erfunden zu haben, und in ihrer Wohnung wurde der Filzstift gefunden, mit dem drei Hakenkreuze auf ihren Bauch gemalt worden waren. Sie habe sich in einer prekären psychischen Lage befunden und deswegen Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollen, geben ihr Anwalt und die Polizei übereinstimmend an.

Dass ihre Geschichte falsch war, erlaubt nicht, die Lehren aus der bereits entstandenen »Affäre« beiseite zu wischen. In den letzten vier Jahren haben mehrere hundert Straftaten, Beleidigungen und Aggressionen gegen in Frankreich lebende Juden stattgefunden; deswegen hielt man die Nachricht ja auch weithin für plausibel. An ihnen waren auch, aber nicht allein junge Männer migrantischer Herkunft beteiligt. Festzuhalten bleibt aber auch die ethnisierende Sichtweise auf Täter und potenzielle Opfer, die einigen Kommentaren gemeinsam ist. Bemerkenswert etwa jener des konservativen Figaro am Tag nach der »Affäre«: »Die Enkel des Maghreb wollen auf ihre Weise am Kampf der Palästinenser teilnehmen. (…) Der Hass ist dabei, über das Mittelmeer herüberzuschwappen.« Als ob das, was in einigen französischen Trabantenstädten passiert, nicht ein Produkt der französischen Gesellschaft wäre, in der die Jugendlichen geboren und aufgewachsen sind – etwa die Tendenzen zur Ethnisierung und teilweise auch Selbstethnisierung so genannter Problembevölkerungen.

In den Verlautbarungen der französischen Rechtsextremen löst sich der antisemitische Kontext der behaupteten Aggression in einer allgemeinen Gewaltkulisse auf: Ähnliche Attacken beträfen angeblich »täglich hunderte von Frauen« in den Vorortzügen. Nur manifestierten normalerweise die Täter nicht in erster Linie Judenhass, sondern antiweißen, »den gewöhnlichen antifranzösischen Rassismus«. Schuld an allem seien arabischstämmige und schwarze Einwanderer. Umgekehrt argumentieren die Vertreter einer auf nationaler oder konfessioneller Herkunft fußenden Selbstethnisierung, die ihrerseits ein Komplott gegen »Araber und Moslems« hinter der Medienberichterstattung über die vorgebliche Gewalttat sehen. So spricht etwa die Liste Euro-Palestine (Jungle World, 23/04), deren »harter Kern« als kommunitaristisch-populistische Kleinpartei nach der Europawahl weiterzumachen sucht, in einem Kommuniqué pauschal von einer »Serie falscher antisemitischer Taten« und »Manipulationen«.