Was Brecht nur im Urlaub las

Der Literaturwissenschaftler Jan Knopf glaubt, dass der marxistische Gehalt bei Bert Brecht überschätzt wird. von klaus teichmann

Einmal nur kommt Karlsruhe auch bei Brecht vor«, sagt Jan Knopf und lacht. Der Grund, warum die mittlerweile einzige Forschungsstelle zu Bertolt Brecht in Deutschland ausgerechnet im arg beschaulichen Beamtenstädtchen Karlsruhe ihren Sitz hat, muss also ein anderer sein. »Wegen mir«, sagt die Brecht-Koryphäe und erklärt, warum: »Ich beschäftige mich seit 1973 intensiv mit Brecht und habe die Universität durch meine Arbeit hier auch einfach ein wenig zur Einrichtung der Forschungsstelle gezwungen.« In diesen Tagen liegt für Knopf einiges an repräsentativen Aufgaben an. Seine »Arbeitsstelle Bertolt Brecht« (ABB) feiert ihr 15jähriges Bestehen.

Ende der achtziger Jahre begann er, die »Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe der Werke Brechts« mitherauszugeben. Die 30bändige Gemeinschaftsausgabe des Suhrkamp- und Aufbau-Verlages wurde als deutsch-deutsche Koproduktion selbst von der FAZ als »einer Sensation gleich« gefeiert.

Im vergangenen Jahr wurde mit dem fünften Band ein Brecht-Handbuch an der Karlsruher Forschungsstelle fertig gestellt. 61 Wissenschaftler aus acht Ländern arbeiteten an über 250 Artikeln, die auf über 2 500 Seiten ausgebreitetet werden. Die Auflösung des Brecht-Zentrums im Ostberliner Wohnhaus des Autors bedeutet dann noch eine weitere Aufwertung der Karlsruher Forschungsstelle.

Das Kolloquium zum Geburtstag des Instituts hat der Professor mit »Brecht Vorurteile!« überschrieben. Ein programmatischer Titel. Diese Thematik liegt dem Wissenschaftler ganz besonders am Herzen. Immer noch polarisiert die Person Bertolt Brecht und sie ist auch ein Politikum. »Über Brecht existieren jede Menge Vorurteile; das Feuilleton lehnt Brecht oft als scheinbaren Marxisten ab, der schale und geschichtlich überholte ›Lehren‹ vertrete«, sagt Knopf. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts wurde das Werk Brechts als scheinbar obsolete ideologische Waffe in der Auseinandersetzung um kulturelle und politische Hegemonie gleich mit verabschiedet. Nicht zuletzt gegen die Vorstellung, dass Brecht ein dogmatischer Marxist gewesen sei, kämpft Knopf seit Jahrzehnten. Er hat in seinen Studien einen ganz anderen Brecht entdeckt, einen, der gerade gegen Ideologie und Weltanschauung opponiert, einen »neuen Brecht«, wie er sagt.

Noch sperrt sich die akademische Welt jedoch gegen seine literaturwissenschaftlichen Erkenntnisse, als arg verfestigt erweist sich das Dogma. »Die Brecht-Forschung ist ein einziger Sumpf, selbst die engere Forschung verweigert sich gegenüber aktuellen Forschungsergebnissen seit Jahren«, echauffiert sich der knapp 60jährige bei seinem Paradethema. »Mittlerweile schreibe ich eigentlich nur noch Polemiken gegen Literaturredaktionen und Brecht-Forscher. Man muss denen richtig vors Schienbein treten, anders geht das nicht.«

Soeben ist wieder ein wüstes Fax in den Räumlichkeiten der ABB auf dem Campus der Karlsruher Uni angekommen. Es geht um einen Streit zwischen den beiden ehemaligen DDR-Herausgebern Werner Hecht und Werner Mittenzwei. Erbittert wird um die richtige Lesart und Einordnung Brechts gestritten, die Auseinandersetzung ist ideologisch höchst aufgeladen, es geht um die Aufkündigung der Zusammenarbeit und von gewachsenen Freundschaften. Für Knopf liegt dies daran, dass man sich oftmals an strittige Brecht-Ausgaben hält. »Trotz der Tatsache, dass in der ›Großen kommentierten Ausgabe der Werke‹ Brechts ›Journale‹ erstmals nach ihrer Überlieferung herausgekommen sind, hält sich ein Teil der Forschung noch immer hartnäckig an die frühe Edition des ›Arbeitsjournals‹ von 1973«, erklärt Knopf. Für ihn eine »eingreifende Edition«, in der um »einen unübersehbaren Wust von Aufzeichnungen verschiedenster Sorte thematische Gruppierungen« gebildet, »Textgehalte abgerundet« und »nicht auf Brecht zurückgehende« Zwischenüberschriften verfasst wurden.

Für Knopf sind das »keine Kleinigkeiten«, sondern Dinge »mit ungeheuren Folgen für die ideologische Rezeption des angeblich seit 1926 beginnenden ›marxistischen‹ Werks«, was schließlich dazu führte, dass Brecht als »kommunistischer Dichter« diskreditiert wurde. Am Beispiel der Zwischenüberschrift »Marxisische Studien. 1926 – 1939« verdeutlicht Knopf seine Argumentation: »Der Titel ist eine Erfindung Hechts und suggeriert, Brecht habe tatsächlich Marx und den Marxismus studiert. Davon kann jedoch keine Rede sein, er hat Marx nie richtig gelesen. Die Lektüre des ›Kapitals‹ ist lediglich als sporadische Urlaubslektüre überliefert.« Dass im Nachlass des Büchermenschen Brecht nur eine fast ungebraucht wirkende Ausgabe des »Kapital« von 1932 gefunden wurde, obwohl seine angeblichen Marx-Studien um Jahre zuvor datiert werden, gilt Knopf dabei als das schwächste Argument. Auch die Behauptung, dass Brechts scheinbar erstes marxistisches Stück, »Die heilige Johanna der Schlachthöfe«, auf den Marxschen Krisenzyklus aufgebaut sei, verweist Knopf in das Reich der Mythen und Legenden: »Ich habe festgestellt, dass das Stück auf das so genannte Corner-Prinzip aufgebaut ist, eine kombinierte Baisse-Hausse-Spekulation, die er aus einem Roman übernommen hat.« Auch dass sich Brecht selbst als Kenner des Marxismus darstellt, wertet Knopf als typisch Brechtsche Selbstinszenierung, die im konkreten Fall einem speziellen Auftritt in Moskau geschuldet sei.

Es geht ihm bei seiner Arbeit freilich nicht darum, Brecht zu reduzieren oder gar zu entpolitisieren, den Künstler als unkritisch zu historisieren und ihm so eine höhere Popularität zu verleihen. »Er hat als kritische, materialistische Theorie den Marx gebraucht« , sagt Knopf. »Brecht war sicher Materialist und hat sich gegen Idealisten gestellt. Er war jedoch gegen einen Marxismus als Weltanschauung. Wir wollen mit unserer Arbeit eine Hilfestellung leisten, den ›neuen Brecht‹ zu entdecken, der natürlich nicht unpolitisch war. Wir haben nur die Ideologie gekappt.« Brecht von seinem Stigma, seinem ideologischen Ballast zu befreien, ist jedoch nur ein Anspruch Knopfs.

Auch auf die Vielfältigkeit des Werkes will der Karlsruher Professor aufmerksam machen: »Brecht hat in verschiedensten Genres Hervorragendes geleistet, nicht nur als Theatermann, auch als Bühnenreformator und sogar auf dem Gebiet der Medientheorie und mit seinen Filmarbeiten. Er war schon als 23jähriger mit einer wüsten Piratengeschichte ein echter Geheimtip in der Szene, obwohl er immer den Stempel ›unbekannter Erzähler‹ hatte.« Die Mittel, die zur Realisierung dieser Diskursverschiebung zur Verfügung stehen, sind jedoch bescheiden. Die Ausstattung in der Forschungsstelle ist rudimentär. Planstellen existieren nicht, es gibt nur Drittmittelstellen. »Wenn wir hier Goethe machen würden, hätten wir sicher viel mehr finanzielle Unterstützung erfahren«, seufzt Professor Jan Knopf unter einem großen Brecht-Poster mit dem Titel »Brecht Vorurteile!«