Wir Europäer

Der identitätsstiftenden Bedeutung der Europäischen Verfassung hat die Linke bislang keine Aufmerksamkeit geschenkt. Oft bemüht sie sich selbst um eine europäische Identität. von mark schneider

Der gelegentliche konkret-Autor und Bremer Professor Jörg Huffschmid nimmt in der aktuellen Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik den am 18. Juni 2004 verabschiedeten Entwurf für eine europäische Verfassung auseinander. Sie sei undemokratisch, unsozial und militaristisch. Sein Fazit lautet: »Diese Verfassung wird die Europäische Union ihren Bürgern und Bürgerinnen nicht näher bringen.«

Diese typisch linke und derzeit weit verbreitete Argumentation hat drei Schwachstellen. Erstens sollte es nicht Aufgabe der Linken sein, sich über die Nähe der BürgerInnen zu »ihrer« Verfassung Gedanken zu machen. Und zweitens ist es einfach falsch, dass fehlende Demokratie, der Abbau sozialer Standards und Militarisierung die BürgerInnen von ihrem Gemeinwesen entfremden würde. Ganz im Gegenteil: Unter allen europäischen Projekten ist die gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik dasjenige, welches von 72 Prozent, in Deutschland sogar von 80 Prozent der Bevölkerung die größte Zustimmung erhält. Drittens – und darum soll es hier gehen – ignoriert eine solche Analyse die darin enthaltenen identitätspolitischen Angebote, die im Mittelpunkt dieser Verfassung stehen und es erst ermöglichen, dass der beklagte Militarismus bedingungslos begrüßt wird.

Das erste gemeinsame Dokument zum Thema »europäische Identität« stammt aus dem Jahr 1973. Bereits damals postulierten die Mitglieder der damaligen EG, dass es ihnen um die Überwindung egoistischer Interessenverteidigung der Einzelstaaten ginge, um das Überleben der Zivilisation zu sichern. Die europäische Einigung entspringe »keinerlei Machtstreben« und nütze »der gesamten Völkergemeinschaft«. Die implizit eingeforderte Weltmachtrolle diene lediglich dazu, die Gleichheit der Staaten zu garantieren und den »Wohlstand besser zu verteilen«. In dem Papier werden – mitten im Kalten Krieg – die Eigenständigkeit und die Unverwechselbarkeit mit den USA proklamiert und durch Benennung europäischer Einflusszonen (Osteuropa, China, Lateinamerika etc.) untermauert. Mit der europäischen Identität ging es allerdings in der Folgezeit nicht so recht voran.

Erst mit dem Ende der Nachkriegsordnung nach 1989, dem Erstarken des deutschen Einflusses innerhalb der EU, territorialen Erweiterungen sowie der strukturellen Vertiefung der Union kam die Frage der alternativen europäischen Weltmacht auf die Tagesordnung. Der Abbau des Einstimmigkeitsprinzips, die schwindende nationale Souveränität innerhalb der EU und die Erweiterung der Aufgabenbereiche muss mit einer identitären Absicherung innerhalb des Staatsvolkes einhergehen.

Bislang waren die BürgerInnen dazu bereit, für ihre Nation den Gürtel enger zu schnallen und im Zweifelsfall auch zu sterben. Jetzt gilt es, diese emotionale Bindung auch gegenüber Europa zu entwickeln. Es ist also nicht verwunderlich, dass seit einigen Jahren eine identitätspolitische Offensive im Gang ist. Sie wird nicht nur von »oben« inszeniert, sondern entwickelt sich aus sich selbst heraus. Die zivilgesellschaftlichen AkteurInnen handeln dabei oft sogar in dem Glauben, gegen »die da oben« zu agieren, und verhelfen dabei der europäischen Identität erst so richtig zum Durchbruch. Gerade die europaweiten Demonstrationen gegen den Irakkrieg, die Europäischen Sozialforen und die Anrufung des »friedlichen und sozialen Europas« bilden den aktuellen europäischen Gründungsmythos.

In diesem Kontext steht auch die in den letzten zwei Jahren entworfene Verfassung. Dabei ist es weniger von Interesse, was in der Verfassung geregelt wird. Viel wichtiger ist es zu konstatieren, dass es jetzt eine Verfassung – ein wichtiges Element bei jeder Nationsbildung – geben soll und wie die Verfassung formuliert ist. Der Präambel und den ersten Passagen kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Im Artikel I-3, »Die Ziele der Union«, tauchen auf nur einer Seite sechsmal das Wort »sozial«, dreimal »Solidarität« und »Völker«, zweimal »Nachhaltigkeit« und »Frieden« auf. Selbst die FAZ interpretierte, dass diese Selbststilisierung Europas als »Abgrenzung gegenüber Amerika verstanden werden« kann.

Europa steht derVerfassung zufolge für die Wahrung des »kulturellen Erbes« und »sprachlicher Vielfalt«, für Jahrtausende alte Traditionen, Beherzigen geschichtlicher Lehren und antikes Erbe, aber auch, in modernerem Jargon, für »nachhaltige Entwicklung«, »Vollbeschäftigung« und »sozialen Fortschritt«, für »Umweltschutz«, »Datenschutz«, Kinderschutz und »Verbraucherschutz«, für »Beseitigung der Armut«, das »Wohl all seiner Bewohner, auch der Schwächsten und der Ärmsten« und den Kampf gegen »soziale Ausgrenzung und Diskriminierung«, für »Menschenrechte«, »Völkerrecht«, Gleichberechtigung und Generationengerechtigkeit.

Diese Beschwörungen, gewissermaßen eine gefährliche Melange aus verfassungstypischer Überhöhung, antiamerikanischer Globalisierungskritik und völkischem Geschwafel, ziehen sich durch das gesamte Dokument. Nur ein Beispiel: In der Verfassung ist auch die »Förderung der europäischen Aspekte des Sports« (Art. III-182) verankert. Diese Aspekte – und das dürften die SportkommentatorInnen spätestens zu den Olympischen Spielen in Griechenland fein herausarbeiten – bestünden in der »Fairness«, der Offenheit und dem »Schutz der körperlichen und seelischen Unversehrtheit der Sportler«.

Das Fortwirken völkischer Europakonzepte, die vor allem in Deutschland weiterhin auf der Tagesordnung stehen, wird in der Verfassung schon daran ersichtlich, dass Europa nicht nur als Werte-, sondern auch als Schicksalsgemeinschaft beschrieben wird. Der neu belebte antike Mythos und das Rekurrieren auf die Vielfalt der Völker, das behauptete Absehen von eigenen Interessen und die Weltmission sind Elemente, die bestimmend für den deutschen Sonderweg waren. Die Verfassung integriert nun nicht nur diesen Sonderweg, sondern will ihn auch mit geschichtspolitischen Passagen vergessen machen. Der Zweite Weltkrieg taucht in der Präambel verklausuliert mit den Worten »alte Trennungen« und »bittere Erfahrungen« auf. Die »Völker Europas«, also auch das deutsche, könnten stolz auf ihre »nationale Identität und Geschichte« sein. Jedoch bieten nicht nur die Verfassung und die darin enthaltenen Argumentationsfiguren identitäre Anschlussstellen. »Die Symbole der Union«, die bislang in den Schlussbestimmungen versteckt waren, wurden in der aktuellen Fassung ganz nach vorne geholt. Zu den schon bekannten, wie Flagge und Währung, gesellen sich nun noch die Hymne, die Devise (»In Vielfalt geeint«) und ein Feiertag (9. Mai).

Die Linke hat in ihrer großen Mehrheit diesen Prozess der europäischen Identitätsbildung, der inzwischen weit vorangeschritten ist, nicht nur verschlafen, sondern aktiv befördert. Mit der Parole »Kein Blut für Öl« auf den Lippen will sie für Frieden und Gerechtigkeit kämpfen. Für Frieden und Gerechtigkeit kämpften aber auch Schröder und Fischer, als sie im ersten europäischen Krieg nach 1945 Jugoslawien bombardierten. Aber auch ohne diese punktuelle Interessensgleichheit treiben die vermeintlich linken Demonstrationen den Nationalisierungsprozess voran, da das »Streben nach Reform und sozialer Revolution als Projekt formuliert (wird), das ›ihren‹ Nationalstaat umgestalten soll«, wie es Etienne Balibar formuliert. Kein Wunder, dass Jörg Huffschmid genau diese identitätsstiftenden Demonstrationen und Verfassungspassagen in seinem Aufsatz lobt.