Zu viel Sex und Urlaub

In ihrem Abschlussbericht resümiert die 9/11-Kommission Fehler von Clinton und Bush und empfiehlt zwei Fronten für den »war on terror«. von william hiscott

Auf 567 Seiten hat man viel Platz. Für Kritik zum Beispiel. Diese enthält der vergangene Woche veröffentliche Bericht der 9/11-Kommission in kleinen Häppchen für alle Beteiligten. Eine Darstellung des Widerstandes der Passagiere des »Flight 93«, die in der Luft gegen ihre Entführer vorgingen und dafür den Tod im Bundesstaat Pennsylvania ernteten, findet sich in dem Bericht ebenso wie eine weit gehende Kritik der Verfehlungen der US-amerikanischen Sicherheitsinstitutionen, eine Verteilung der »Schuld« auf die Verantwortlichen in den Regierungen Clinton und Bush, Seitenhiebe gegen opportunistische Kongressabgeordnete und eine gehörige Portion amerikanisches Pathos erster Klasse.

Der rechte paranoide Bestseller-Autor und frisch gebackene Antikriegsschriftsteller Tom Clancy hätte den Bericht nicht besser schreiben können. Leider war Clancys aufrechter CIA-Agent Jack Ryan, der stets in letzter Minute Amerika rettet, beim Anschlag abwesend. Abwesend war Ende der neunziger Jahre zudem Präsident Bill Clinton, da er, so behauptet der Kommissionsbericht, zeitweilig mehr mit dem Sexskandal um seine Person beschäftigt war als mit dem Kampf gegen Ussama bin Laden. George W. Bush war ebenfalls abwesend. Der vierwöchige Urlaub des Präsidenten im August vor den Anschlägen ist nicht ausdrücklich erwähnt, doch wird in dem Bericht durch die Blume gesagt, dass Bush die mittlerweile berühmt-berüchtigte, dringende Sicherheitsmitteilung mit der Überschrift »Bin Laden entschlossen, die USA anzugreifen«, erhielt und daraufhin in den Urlaub flog, ohne auch nur das Geringste zu unternehmen.

Dieser grobe Fehler Bushs, der jeden mittleren Angestellten den Job gekostet hätte, wird in den zunehmend wichtiger werdenden Weblogs, nicht zuletzt auch in der Kolumne »Capital Games« von David Corn auf der Website der linksliberalen Nation, ausgeschlachtet, jedoch von keinem größeren Medienoutlet aufgegriffen. Auch die Tatsache, dass der Bericht die von Bush und seinem Vizepräsidenten Dick Cheney propagierte Verbindung zwischen al-Qaida und dem Irak unter Saddam Hussein so nicht bestätigt, spielen die Medien derzeit herunter. Nachrichtenkanäle wie CNN und Fox News zeigten vielmehr die Flight-93-Helden und die mit dem Bericht veröffentlichten Bilder einiger Terroristen, wie sie am Tag der Anschläge erfolgreich die Flughafensicherheitschecks passieren. So halten es auch viele Boulevardzeitungen des Landes. Die New York Post hingegen übt sich in Volkszorn. »Sie alle haben uns hängen lassen«, schreibt dort die Leitartiklerin Marsha Kranes.

Die New York Times und die Washington Post geben sich stattdessen staatstragend und kommentieren vor allem die Empfehlungen des Berichts und die Aufgaben, welche den USA dadurch entstünden. Die Post schreibt dem Bericht eine Katalysatorfunktion zu – als Anregung für die Diskussion der großen Frage: »Ist Amerika bereit, sich diesem Krieg (gegen den Terror; W.H.) auf lange Sicht zu stellen, und wie muss eine Gesellschaft dafür organisiert sein?«

Folgt man den Empfehlungen der zehnköpfigen Kommission, müssen sich die Gesellschaft und die amerikanische Bevölkerung auf einiges gefasst machen. Vor allem sollen die Sicherheitsbestimmungen gegenüber Einreisenden in die USA, aber auch gegenüber amerikanischen Staatsbürgern stringenter gefasst werden. Biometrische Daten sollen konsequent erhoben und gespeichert, eine noch umfassendere nationale Sicherheitsdatenbank eingerichtet und die Bestimmungen, wer überhaupt Flüge in die und innerhalb der USA nutzen darf, verschärft werden. Sogar ein nationaler Führerschein soll entworfen werden, eine Idee, welche die American Civil Liberties Union aufs Schärfste kritisiert, da dies aus ihrer Sicht einen großen Schritt in Richtung eines nationalen Personalausweises bedeuten würde. Kurzum, die paritätisch aus Republikanern und Demokraten bestehende Kommission empfiehlt eine Beibehaltung und Intensivierung des sicherheitspolitischen Kurses im Stil des Patriot Act aus dem Jahr 2001.

Auf staatlicher Ebene schlägt die Kommission eine Generalüberholung und Erweiterung des Geheimdienstsystems vor. Unter anderem soll ein nationaler so genannter Geheimdienstzar, der die Arbeit der rund ein Dutzend Geheimdienste und der Bundespolizei koordiniert, eingerichtet werden, sowie ein »Nationales Zentrum zur Terrorabwehr« im Weißen Haus. Das alles neben dem erst vor zwei Jahren eingerichteten Departement of Homeland Security.

Die Empfehlungen der Kommission sehen auch eine langfristige Weiterführung des weltweiten »Krieges gegen den Terror« an zwei Fronten vor. »Wir haben zwei Feinde: al-Qaida, ein staatenloses Netzwerk von Terroristen, das uns am 11. September überfiel, und eine radikale, teilweise von al-Qaida inspirierte ideologische Bewegung in der islamischen Welt, die terroristische Gruppen und Gewalt überall auf der Welt hervorgebracht hat. Der erste Feind ist geschwächt, stellt aber weiterhin eine ernsthafte Bedrohung dar. Der zweite Feind sammelt sich und wird Amerikaner und amerikanische Interessen bedrohen, lange nachdem Ussama bin Laden und seine Gefolgsleute getötet oder gefangen genommen wurden. Deshalb muss unsere Strategie sein, unsere Mittel aufeinander abzustimmen, um zwei Ziele zu erreichen: die Demontage des al-Qaida-Netzwerkes und den langfristigen Sieg über die Ideologie, die den islamistischen Terrorismus fördert.«

Die Vertreter beider Parteien üben sich nach der Veröffentlichung in Zurückhaltung, obgleich drei Monate vor der Wahl selbstverständlich ein bisschen Wahlkampf betrieben wird. Republikaner sehen vor allem Bill Clintons Verantwortlichkeit. Tom DeLay, der Mehrheitsführer im Abgeordnetenhaus, erklärte für die Konservativen: »Acht Jahre lang bekriegte uns in den neunziger Jahren der internationale Terrorismus, und wir behandelten das so, als sei dies ein Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung.« Der demokratische Senator Ted Kennedy machte dagegen Bush als den Schuldigen für Versäumnisse aus. Der Bericht mache klar, so Kennedy, »dass die Bush-Regierung al-Qaida nicht die nötige Priorität einräumte, weder vor 9/11 noch danach«.

Der Vorsitzende der Kommission, Thomas Kean, betonte wiederholt, dass die Realisierung der Pläne durch Politikspielchen nicht behindert werden dürfte – insbesondere in einer Zeit, in der öffentlich über einen möglichen Anschlag vor der Präsidentschaftswahl im November spekuliert wird. Es könnte daher sein, dass der vor Wahlen übliche politische Stillstand in Washington im ersten Präsidentschaftswahlkampf nach 9/11 nicht eintritt. Stattdessen könnten – schenkt man den Aussagen der Fraktionsvorsitzenden beider Parteien im Senat, Bill Frist und Tom Daschle, Glauben – bereits Anfang Oktober die Gesetze geändert werden. Zu befürchten ist, dass damit die in den USA schon jetzt erheblich eingeschränkten Bürgerrechte weiter abgebaut und die aufgeblähten Sicherheits- und Geheimdienste noch weiter ausgebaut würden.