Europa braucht Opfer

Auslöser der Schlauchbootmigration nach Europa ist eine verstärkte Nachfrage nach prekärer Arbeitskraft. Zur Kritik des einseitigen Opferdiskurses. von fabian frenzel

Die gegenwärtige Debatte um die Festung Europa und die oft tödlichen Versuche von afrikanischen und asiatischen Migranten, sie zu erreichen, folgen einem problematischen Muster. Da stehen »Realisten« gegen »Humanitäre«, gewissenlose Innenminister gegen sorgenvolle Gutmenschen. Die Menschen in den Schlauchbooten aber werden von allen Seiten kollektiv zu hilfsbedürftigen Opfern stilisiert, deren einzige Hoffnung Europa sein kann. Auch die Kritik an der »Festung Europa« kann so nolens volens zur Affirmation des rassistischen Zerrbildes einer anstehenden Massenflucht von Süden nach Norden werden. Und als handelnde Subjekte kommen die Flüchtlinge nicht vor.

Unterstellt man allen, die versuchen, ohne Papiere das Mittelmeer zu überqueren, die Flucht, entsteht ein Diskurs um Opfer und Armut, der verschleiert, wie vielfältig die Verbindungen zwischen Afrika und Europa heute sind.

Faktisch existiert seit der kolonialen Eroberung Nordafrikas, insbesondere aber seit der Unabhängigkeit der nordafrikanischen Staaten, ein transnationaler mediterraner Raum. Neben dieser historisch-politischen Verbindung ist durch die Anwerbung von Arbeitskräften in den Nachkriegsjahrzehnten eine weitere räumliche Verbindung entstanden.

Innerhalb der Grenzen der EU leben heute Millionen Nordafrikaner, deren familiäre Netzwerke »Transmigrationen« mit kulturellen und finanziellen Transfers in beiden Richtungen leisten. In Marokko beispielsweise existiert kaum ein Dorf, das nicht über eine Anzahl von in Europa ansässigen oder mit Europa vernetzten Familien verfügt.

Die Schlauchbootmigration an der Meerenge von Gibraltar ist erst in den neunziger Jahren entstanden. Der unmittelbare Auslöser ist dabei nicht die zunehmende Verzweiflung der Nordafrikaner, sondern eine manifeste Nachfrage nach Arbeitskräften im in den neunziger Jahren boomenden Andalusien. Industrielle Landwirtschaft und Tourismus, aufgepäppelt mit EU-Strukturfonds, wurden konkurrenzfähig durch ein Heer von prekären Arbeitskräften. Zunächst kamen marokkanische, später auch westafrikanische und rumänische Papierlose und Saisonarbeiter.

Doch auch hier wäre es falsch, pauschal von einem Opferstatus der Arbeiter zu sprechen. Denn erstens verdienen die Marokkaner hier in der Regel immer noch mehr als in vergleichbaren Arbeitsverhältnissen, die derweil zum Beispiel auch in Nordmarokko in der Tangier Free Trade Zone oder in Laraches Erdbeerplantagen entstanden sind. Und zweitens ist diese Arbeit vielleicht ein erster Schritt in die Legalisierung und damit in bessere Arbeitsbedingungen. Die Mehrzahl der Schlauchbootmigranten treibt ein relativ gesichertes Wissen um Nachfrage nach Arbeitskräften, die es zu vergleichbaren Konditionen zuhause nicht gibt.

Der spanische Staat hat durch eine Reihe von Maßnahmen, Einbürgerungen, Verträgen über Saisonarbeiter sowie eine striktere Kontrolle der Außengrenzen – nicht zuletzt unter dem Druck der anderen Schengen-Staaten – versucht, das Problem zu lösen. Doch die Parameter des neoliberalen Kapitalismus, insbesondere das Interesse an prekärer Arbeitskraft, lassen die Nachfrage nach illegalisierten Arbeitern nicht abreißen. Das Ergebnis der strikten Grenzkontrollen ist daher vor allem ein höherer Organisationsgrad des Transportwesens.

Deregulierter Kapitalismus ist vom organisierten Verbrechen recht schwer zu unterscheiden. Wird allerdings allein den Transportunternehmern der Mafiavorwurf gemacht, dann projiziert die europäische Öffentlichkeit das Übel auf die andere Seite einer Grenze, die ökonomisch kaum noch existiert.

Der eigentliche Skandal, von dem in der aktuellen Debatte leider nicht geredet wird, ist die Beschränkung der Bewegungsfreiheit von Menschen durch Staaten, die kaum mehr willens oder in der Lage sind, irgendetwas anderes zu beschränken.