Heiter bis wolkig

Die Thomas-Bernhard-Werkausgabe bei Suhrkamp lässt keine Wünsche offen. In ihr sind nun zwei weitere Teile erschienen. von jan süselbeck

Eine von unseren Grauenverstärkungsanlagen hervorgerufene Fiktion von Leichen, sich immer rhythmisch zufallenden Männerleichen …« Kein Zweifel, das ist der harte Sound des frühen Thomas Bernhard. »Amras«, erstmals 1964 erschienen, ist eine düstere Erzählung – auch wenn der Autor später gerne schmunzelnd behauptete, er selbst könne beim wiederholten Lesen solcher Texte nur laut auflachen.

Im Rahmen der Bernhard-Werkausgabe im Suhrkamp Verlag ist »Amras« nun neu ediert worden, zusammen mit den Arbeiten »In der Höhe. Rettungsversuch, Unsinn« (1989), »Der Italiener« (1964) und »Der Kulterer« (1969).

Der Band enthält auch die eigenwilligen Drehbücher, die Bernhard aus den letztgenannten beiden Texten fertigte. Sie wurden in den siebziger Jahren verfilmt und sind von den Herausgebern Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler als »reizvoller Anlass zum Vergleichen« aufgenommen worden. Dem editorischen Kommentar zufolge führen sie »nicht nur in die Poetik Bernhards hinein, sondern weit darüber hinaus zu den Grundfragen des Erzählens und der filmischen Gestaltung«.

»In der Höhe«, bereits 1959/60 entstanden und von dem todkranken Bernhard 1988 als letzte Veröffentlichung zu Lebzeiten für den Salzburger Residenz Verlag noch einmal korrigiert und überarbeitet, ist ein weiteres frühes, autobiographisch grundiertes Prosaexperiment. Die Herausgeber erläutern, dass Bernhard das »romanartige Gebilde« kurz vor seinem Tod so zusammenkürzte, als habe er es im Nachhinein seinem erklärten Lieblingswerk »Amras« angleichen wollen.

»Amras« verweist zwar schon im Motto auf Novalis, doch die Erzählung ist nur noch als radikale Auslöschung romantischer Traditionen lesbar. In einer seiner seltenen Selbstinterpretationen, die die Herausgeber erstmals zitieren, stuft Bernhard sein Werk als Beschreibung einer Welt ein, »die sich auflöst und eigentlich, je tiefer und je genauer sie angeschaut wird, nichts als die immer gleich aus sich heraus tödliche, (…) völlig überraschungslose Natur ist«.

Bernhard experimentierte in seinen frühen Prosaversuchen ab Ende der fünfziger Jahre mit neuen, teilweise Cut-up-artigen und collagierenden Schreibweisen, die sich an dem Problem einer mimetischen Darstellung des nicht mehr Darstellbaren abarbeiteten. So findet sich in dem Text »In der Höhe« eine Beschreibung, die wohl aufgrund poetischer Reflexion im späteren Werk so nicht mehr möglich war. Bernhard, der sich wie kaum ein zweiter Nachkriegsschriftsteller mit der verleugneten Geschichte des Nationalsozialismus in Deutschland und Österreich offensiv auseinandergesetzt hat, verstand wohl bald unabhängig von einschlägigen Überlegungen Theodor W. Adornos, dass man Auschwitz mit einem ungebrochenen dokumentarischen Realismus schriftstellerisch nicht mehr gerecht werden konnte: »Das Gas hat ihre Köpfe aufgeblasen, ihnen die Gehörgänge verstopft: eine richtige Riesenschaufel schiebt die tote Masse dieser Menschen in einen riesigen Ofen hinein: die Hitze ist so groß, dass alles zu Staub zerfällt.«

Von dieser im Werk tatsächlich einzigartigen und direkten Thematisierung der Judenvernichtung gab es für Bernhard jedenfalls keinen Rückweg mehr in die epigonale, lyrische Idylle seiner frühen Gedichte. Um so bedeutsamer erscheint es aus heutiger Sicht, dass er diesen herausragenden Wendepunkt in seiner persönlichen Werkgeschichte zuletzt, genau drei Jahrzehnte nach Entstehung des Texts, als eine Art Vermächtnis doch noch publizierte – und zwar unter ausdrücklichem Verzicht auf jedes Honorar. Gleichzeitig stellt sein letztveröffentlichter Roman »Auslöschung« (1986) eine abschließende Wiederaufnahme der Motivik jenes mit nationalsozialistischer Schuld beladenen »Herkunftskomplexes« von Schloss Wolfsegg dar, der bereits in den jetzt wieder neu edierten »Italiener«-Texten auftaucht.

Auch der von Manfred Mittermayer und Jean-Marie Winkler herausgegebene Band 15 der Werkausgabe (Dramen I) widmet sich den frühen schriftstellerischen Versuchen Bernhards. In ihrem erkenntnisreichen Nachwort bemerken die Herausgeber, dass der lange bestimmende öffentliche Eindruck, Bernhard habe zunächst als Lyriker und später als Prosaschriftsteller reüssiert und sei erst sehr spät, nämlich mit seinem Erfolg von »Ein Fest für Boris« (die legendäre Uraufführung fand am 29. Juni 1970 im Deutschen Schauspielhaus Hamburg unter der Regie Claus Peymanns statt) beim Drama angekommen, nicht haltbar ist. Schließlich hatte Bernhard bereits 1960 mit drei kurzen Stücken auf dem Kärntner Tonhof des mit ihm befreundeten Ehepaars Maja und Gerhard Lampersberg in Maria Saal Premiere: »Die Erfundene«, »Rosa« und »Frühling« – freilich vor einem weit kleineren Publikum.

Hinzu kommen die ebenfalls für den Komponisten Lampersberg verfassten, musiktheatralischen Arbeiten »die rosen der einöde« (bereits 1959 bei S. Fischer erschienen) und »Köpfe« (1960). Offenbar bereits 1957 begonnen wurde der kurze dramatische Text »Der Berg. Ein Spiel für Marionetten als Menschen oder Menschen als Marionetten«, der 1970 in der Zeitschrift Literatur und Kritik erschien und dessen Aufführung im selben Jahr im österreichischen Fernsehen ausgestrahlt wurde. Zusätzlich enthält der Band die drei Dramenklassiker »Ein Fest für Boris«, »Der Ignorant und der Wahnsinnige« (1972) und »Die Jagdgesellschaft« (1974).

Wurde der Tod auch in Bernhards Dramen schnell zum zentralen Motiv – in »Der Ignorant und der Wahnsinnige« zitiert der Autor sogar ausführlich und wortwörtlich aus den Sektionsanweisungen eines pathologischen Handbuchs der Universität Wien, welches er seinerzeit von seinem Bruder, dem Arzt Peter Fabjan, erbeten hatte –, so ist es doch besonders bemerkenswert, wie in den früheren Dramentexten auch sexuelle Konnotationen zum Spielmaterial werden. Bernhard erarbeitet sich hier schon seinen typischen, lyrisch-rhythmischen Dramenstil und kalauert in den »rosen der einöde«:

mädchen / brich ihn nicht ab / du sollst ihn / nicht abbrechen / oh

gärtner / eins zwei drei vier / es / stimmt nicht

mädchen / was stimmt nicht / gärtner / es stimmt nicht

mädchen / was

gärtner / die pflaume

mädchen / die pflaume

gärtner / sie schmeckt nicht / sie schmeckt nicht / wie eine / pflaume

mädchen / mmm

gärtner / und wenn ich sie / und wenn ich sie / eins zwei drei vier / und wenn ich sie / einpflanze

chor / einpflanzen / einpflanzen

Damit scheinen erotische Anspielungen in Bernhards frühen sprachmusikalischen Arbeiten auf, die so gar nicht zum Bild des düsteren, asketischen »Alpen-Beckett« passen wollen, in dessen späteren Büchern Frauen bekanntlich bis auf wenige Ausnahmen nur noch als Auslöser misogyner Tiraden figurieren sollten. Dies soll allerdings nicht heißen, dass die Sexualität in Bernhards späterem Werk überhaupt keine Rolle mehr spielt. Möglicherweise könnte die aktuelle, gebündelte Ausgabe der frühen Dramenversuche auch aus dieser Perspektive den Blick auf die späteren Texte schärfen helfen.

Schließlich taucht auch in dem Prosatext »In der Höhe« ein Gärtner auf, und die Szene entpuppt sich als eine von sexueller Spannung aufgeladene intertextuelle Bezugnahme auf eine berühmte Szene aus Adalbert Stifters berüchtigter, elegisch-prüder Monumentalerzählung »Der Nachsommer« (1857). Zum hölzernen Happy End des »Nachsommers« betrachtet eine züchtige Hochzeitsgesellschaft unter Anleitung des Gärtners Simon das Ereignis einer seltenen Kaktusblüte – eine aus psychoanalytischer Sicht durchaus zweideutige voyeuristische Aktion am Hochzeitsabend des Protagonisten Heinrich Drendorf, wie der Literaturwissenschaftler Martin Selge 1992 bemerkte.

Bernhard nimmt nun dieses Motiv spielerisch auf, um sogleich den unterschwelligen Symbolgehalt des Kakteenmotivs zu betonen: »der morgendliche Besuch beim Gärtner, wissen Sie, was der Gärtner heuer für eine Überaschung bereithält?, (…) er hat einen Kaktus, / sie habe für Kakteen nichts übrig, Kakteen erregten in ihr nur Abscheu, erinnerten sie an nackte übertrieben lüsterne Männer, an schmutzige Satyriasis, nein, nein, (…) sie habe Kakteen immer schon gehaßt, sich auch schon daran gestochen, geblutet; (…) was soll also Besonderes an diesem Kaktus sein?, / das Besondere sei seine Blüte, diese Blüte könne man nur heute und dann wieder sieben Jahre nicht mehr sehen, eine wunderbare Blüte, / ich gehe heute abend hin, was rede ich mit dem Gärtner?, ich gehe hin, um die Blüte zu sehen, sagte sie.«

Insgesamt kann man den Herausgebern Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler schon jetzt gratulieren. Nicht nur die sorgsame Edition ihrer Bernhard-Werkausgabe lässt kaum zu wünschen übrig, auch die editorischen Kommentare der verschiedenen Herausgeber beeindrucken immer wieder durch ihre knappen, zupackend und überaus informativ formulierten Forschungsberichte aus der Arbeit mit dem Nachlass des Schriftstellers. Man bekommt nicht übel Lust, diesen Erfolg mit einem Zwiebelrostbraten oder einem Beefsteak Tatar im berühmten Wiener Restaurant »Drei Husaren« zu feiern. Beim allerbesten Champagner, versteht sich, am Tag der Kaktusblüte.

Thomas Bernhard: Werke Band 11: In der Höhe, Amras, Der Italiener, Der Kulterer. Suhrkamp.

378 S., 34,90 Euro

Thomas Bernhard: Werke Band 15: Dramen I. Suhrkamp. 503 S., 34, 90 Euro.