Stärke und Weisheit

Mit eindeutigen Aussagen mochte sich John Kerry auf dem Wahlparteitag der Demokraten nicht profilieren. Doch aus Angst vor einer zweiten Amtszeit Bushs unterstützen ihn auch viele Linke. von tim blömeke

Unter den politischen Kommentatoren der USA galt es lange als ausgemachte Binsenweisheit, dass am Wahlparteitag die Republikaner ihre Kandidaten küren, die Demokraten jedoch ihre Kandidaten abschlachten. Der Satz nimmt Bezug auf die auf Wahlparteitagen der Demokraten immer wieder vorkommenden heftigen Debatten zwischen der Parteilinken (den progressives, also »Fortschrittlichen«) und der zentristischen Parteiführung.

Als im Jahr 2000 Bill Clintons Vize Al Gore auf den Schild gehoben wurde, erfuhr die Weisheit von den königsmörderischen Tendenzen der Demokraten noch einmal eine Renaissance, allerdings unter tätiger Mithilfe des Opfers. Sein Plan, sich gemeinsam mit dem konservativen und viel gehassten Joseph Lieberman als running mate als seriöser Nachfolger des schillernden Amtsträgers darzustellen, wurde von George W. Bush mit dem Verweis auf die Vizepräsidentschaft Gores vereitelt. Im Ergebnis stand Gore als langweilige B-Version Clintons da und konnte nur knapp die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erobern. Der Rest ist bekannt.

Vier Jahre später ist alles anders. Der mittlerweile auch moralisch halbwegs rehabilitierte Clinton mimt zwar noch den politischen Übervater, stellt sich aber, anders als vor vier Jahren, in den Dienst des Kandidaten. Seine Rede am ersten Tag der Democratic Convention in Boston ist disziplinierte 30 Minuten kurz und preist John F. Kerry als den Mann, der sich anders als George Bush, Richard Cheney und Clinton selbst nicht vor dem Vietnamkrieg gedrückt habe. Offene Kritik an Bush bleibt weitgehend aus, Clinton demontiert Bush aber mit einer Reihe geschickter Anspielungen, gekrönt von dem Satz, dass Stärke und Weisheit keine Gegensätze sein müssen.

Clintons Rede setzt die Akzente für den Rest des Parteitags. John Kerrys Persönlichkeit wird ebenso ausgiebig wie einseitig über seine vier Monate in Vietnam definiert. Sachthemen und Kerrys 20 Jahre im Senat kommen nur am Rande vor. Beim genaueren Hinsehen wird auch schnell klar, warum das so ist. Kerry hat dem Irakkrieg zugestimmt, konnte sich aber bisher nicht dazu durchringen, sein Ja zum Krieg öffentlich als Fehler zu bezeichnen. Solange das so bleibt, muss er die Grundidee der Bush-Administration, qua Militäreinsatz den Irak zu demokratisieren, gutheißen und seine Kritik auf das Benennen handwerklicher Fehler beschränken. Solche Details sind wenig wahlkampftauglich.

In seiner acceptance speech, der Rede, mit der Kerry die Nominierung durch seine Partei annimmt, reißt der Kandidat das Thema Irak nur an. Alles, was ihm dazu einfällt, ist die Forderung nach einer personellen Aufstockung der Armee und vermehrten Anstrengungen beim Wiederaufbau. Genauso spricht er über die innere Sicherheit: Statt eine klare Gegenposition zu Bush einzunehmen und eine Rücknahme der insbesondere unter Liberalen als völlig überzogen, bürgerrechtsfeindlich und unzweckmäßig geltenden, im USA Patriot Act zusammengefassten Sicherheitsgesetze zu fordern, kündigt er eine Erhöhung des Budgets für innere Sicherheit an. Statt eine Rücknahme der umfangreichen Steuergeschenke Bushs an die oberen Zehntausend zu fordern, die gemeinsam mit den Kosten für den »Krieg gegen den Terror« das Haushaltsdefizit der USA auf ein historisches Rekordniveau getrieben haben, kündigt Kerry weitere Steuersenkungen an, diesmal für die Mittelschichten. Man muss kein Finanzgenie sein, um dieses Vorhaben als undurchführbar zu erkennen.

Dennoch hält sich zumindest die Linke mit Kritik an Kerry weitgehend zurück. Naomi Klein, eine Ikone der Globalisierungskritik, untertitelt ihren jüngsten Artikel in der Wochenzeitung The Nation mit: »Anybody but Bush. And then let’s get back to work«, was den sich verfestigenden Konsens von der bürgerlichen Mitte bis weit in die Linke hinein recht gut zusammenfasst. Die Green Party, die bei der vergangenen Präsidentschaftswahl noch die Kandidatur des prominenten Verbraucheranwalts Ralph Nader unterstützte, wollte ihn in diesem Jahr nicht nominieren und verzichtet ganz auf eine Beteiligung. 2000 war Naders Kandidatur noch mit ausschlaggebend für die Niederlage Al Gores; in diesem Jahr hat er als unabhängiger Kandidat wohl kaum Aussichten auf einen relevanten Stimmenanteil.

Bemerkenswert ist auch die ungewöhnlich große Unterstützung für Kerry durch Künstler und Wissenschaftler. Selbst der des Politischen ansonsten unverdächtige Rapper Eminem forderte auf einem Konzert die 25 000 Zuhörer auf, sich als Wähler registrieren zu lassen; das Ganze ist Teil einer Anti-Bush-Kampagne, die auch von einer Reihe weiterer Hip-Hop-Größen getragen wird.

Die Union of Concerned Scientists hat mittlerweile weit über 4 000 Unterschriften von Wissenschaftlern für eine Erklärung gesammelt, die Bushs stark religiös-ideologisch gefärbte Wissenschaftspolitik anklagt. Es sei zu befürchten, dass weitere vier Jahre eine starke Abwanderung intellektuellen Potenzials in Länder bewirken würden, deren Regierungen die Bibel nicht als Quelle der ersten und letzten Wahrheit betrachten. Ron Reagan, der Sohn des kürzlich verstorbenen ehemaligen Präsidenten und Alzheimer-Patienten Ronald Reagan, hat sogar auf dem Parteitag der Demokraten einen Vortrag über Stammzellenforschung gehalten und die religiös motivierten Einschränkungen der Bush-Administration scharf angegriffen.

Fundierte Kritik an Kerrys Position zu diesem Thema und anderen kommt von der Rechten. William Safire, politischer Kommentator der New York Times, attackiert den Kandidaten dafür, dass er einerseits die Stammzellenforschung weiter fördern will – was gegenwärtig politisch opportun ist –, gleichzeitig aber die Position vertritt, menschliches Leben beginne mit der Befruchtung, eine Meinung, die angesichts des hohen Anteils gläubiger Christen in der Bevölkerung ebenfalls politisch opportun ist. Zugespitzt hieße das, Kerry hielte Mord unter bestimmten Umständen für legal.

Seltsam mutet auch Kerrys Position zur Todesstrafe an. Er ist im Prinzip dagegen – für den Präsidentschaftskandidaten einer großen Partei eine Premiere –, will aber Terroristen dennoch hinrichten lassen. Für Gegner der Todesstrafe, die dem Staat das Recht zu töten absprechen, ist er deshalb zwar besser wählbar als Bush, der als Gouverneur von Texas immerhin 142 Menschen hat hinrichten lassen. Aber dass er bei Mördern eine Ausnahme machen will, deren Motiv statt Geldgier oder Eifersucht das Verbreiten von Angst und Schrecken ist, erweckt den Eindruck, dass er es allen recht machen, in Bushs »Krieg gegen den Terror« mitspielen und dabei nicht als Weichling erscheinen will. Stärke und Weisheit sehen anders aus.

Unter normalen Umständen würde diese Prinzipienlosigkeit Kerrys einer ganzen Reihe linker oder liberaler Autoren Anlass für vernichtende Kritik liefern. Die Linke aber fürchtet sich wie Naomi Klein derart vor weiteren vier Jahren Bush, dass sie Kerry seine butterweiche Positionierung nachsieht und kräftig für ihn die Werbetrommel rührt. Unklar ist, ob Kerry es ihr im Falle eines Sieges danken wird. Sicher ist, dass es sehr gute Gründe gibt, Angst zu haben.