Wir wollen alles von Nanni Balestrini

Fehlen an allen Tagen

Nanni Balestrinis Roman zu den Fiat-Streiks

Bei Fiat wird gestreikt. Der Arbeiter betritt eine Werkhalle in der Fließbandfabrik. »Was machen Sie hier drin mit diesem Schild? Mit dem da? frage ich. Ich halte es hoch. Ja, wissen Sie denn nicht, dass man mit Schildern hier nicht herein darf? Wo steht denn das geschrieben? In der Werksordnung steht nichts davon, dass man hier mit Schildern nicht reindarf, deshalb komm ich rein. Kommt nicht in Frage. Aber das ist ja die reine Willkür, dass man nicht reindarf, das sagen Sie jetzt so, während ich einfach reingeh. Das Schild gefällt mir und ich trage es einfach neben mir her. Nein, mit Gegenständen, die mit der Arbeit nichts zu tun haben, kommt hier keiner rein. Und warum darf der dann da seine Sportzeitung mit reinbringen, was hat der Corriere dello Sport mit der Arbeit und mit den Arbeitern zu tun? Das Schild hier interessiert die Arbeiter wenigstens, aber diese Zeitung da interessiert niemanden.«

Lange Zeit wurde das Buch nur in Kopien herumgereicht, denn selbst in Antiquariaten war es nur schwer zu finden: »Wir wollen alles« von Nanni Balestrini. Der »Roman der Fiatkämpfe« erschien 1971 in Italien, 1972 erschien die Übersetzung von Peter O. Chotjewitz im Münchener Trikont Verlag, danach war das erste Buch aus Balestrinis Trilogie über die sozialen Kämpfe der sechziger und siebziger Jahre in Italien nicht mehr auf Deutsch erhältlich. Die beiden anderen Bände, »Der Verleger« und »Die Unsichtbaren«, erschienen in den letzten Jahren im Verlag Assoziation A, der auch »Wir wollen alles« wieder zugänglich gemacht hat.

Das Erzähler-Ich in diesem Roman, der auf der Grundlage von Gesprächsprotokollen geschrieben wurde, ist ein kollektives – ein Arbeiter wie alle Arbeiter. Einer, der die Schnauze gestrichen voll hat. Er will weder die kleinteiligen und halbherzigen Verhandlungen der Gewerkschaft mit der Werksleitung abwarten, noch will er auf die wenigen Zugeständnisse, die die Unternehmer machen wollen, eingehen. Er will nicht viel, er will nur nicht so enden wie seine Eltern. Er will ein Auto, eine Wohnung, genug Geld für ein gutes Leben, er denkt nicht an andere, er denkt an sich. Und er weiß, dass das, was er will, nur mit den anderen zu erreichen ist. So wird er aus gutem Egoismus zu einem politischen Aktivisten. Während man liest, wird man gleichfalls ungehalten, der hektische Erzählfluss reißt mit.

Für »Wir wollen alles« hat Balestrini eine unverbrauchte gesprochene Sprache gefunden, sein Erzähler verheddert sich in den Sätzen, betont falsch, spricht falsch (sein Übersetzer hat das adäquat ins Deutsche übertragen). So ist dieser Roman ein Entwicklungsroman im besten Sinne, und er versucht, seine Leserinnen und Leser gleich mit zu erziehen.

Heute, wo das Subjekt sich bereits in ganz anderer Weise selbst zurichtet und zurichten soll, hat der Roman noch eine weitere Qualität. Er zeigt hoffungsfroh, dass man eben nicht immer mittun muss. »Kreuz und quer laufen wir durch die Bänder, und dabei schreien wir alle im Chor: Mehr Geld, weniger Arbeit! Oder: Wir wollen alles! Immer die Bänder auf und ab, und dabei machen wir Versammlungen. Bis zum Feierabend.«

Nanni Balestrini: Wir wollen alles. Assoziation A, Berlin, Göttingen, Hamburg 2003, 170 S., 12 Euro