Bilder sehen uns an

Wie mächtig ist das Visuelle? Brauchen wir eine kritische Bildwissenschaft? Im Sammelband »Iconic Turn« wird nach Antworten gesucht. von thorsten seidel

Seit dem 19. Jahrhundert und insbesondere im 20. Jahrhundert haben Bilder in Wissenschaft, Kultur und Medizin einen besonderen Stellenwert erlangt. Technische Bilder haben entscheidenden Anteil am Wissenschaftsprozess. Kein Massenmedium arbeitet ohne Bilder. Seit zwei Jahrzehnten verdrängen errechnete Bilder unaufhaltsam traditionelle Reproduktions- und Aufnahmetechnologien. Der Computer ist zum Leitmedium unserer Zeit geworden. Erlebt die Schriftkultur ihren Übergang zu einer Bildkultur? Wissenschaftler und Kulturkritiker bezeichnen diese Wendung als Iconic Turn. Einen Überblick über den Stand der Diskussion liefert das Buch »Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder«, das Beiträge von Geisteswissenschaftlern, Neurologen und Künstlern versammelt. Die Autoren – einige fordern bereits die Transformation der Kunst- und Kulturwissenschaften in eine »Bildwissenschaft« – lenken den Blick insbesondere auf Bilder des 20. Jahrhunderts und auf die durch Digitalisierung ermöglichten Gestaltungstechniken.

Der Begriff »Iconic Turn« stammt von Gottfried Boehm und bezeichnete für den Kunsthistoriker ein fachinternes Problem: Es geht ihm um die Frage, ob Bilder nicht zuallererst autonome Kunstwerke sind, die ohne einen überliefernden Textkommentar auskommen und aus sich heraus sprechen. Bilder sind für Boehm nicht sprachlich, sondern zuerst durch Wahrnehmung erschlossen. Die Eigenlogik der Bilder wertet ihre Stellung gegenüber der Sprache auf.

Parallel dazu wurde dieser Begriff aufgesprengt und erweitert. Die Popularisierung des Bildes, seine Befreiung von Zwängen hatte Grenzen nicht nur in der Kunst, sondern auch im öffentlichen Raum aufgeweicht. Dafür spricht die Tatsache einer zunehmenden Verlagerung von sprachlicher zu bildlicher Information. Insbesondere die Fähigkeit der Bilder, in ganz verschiedenen Kontexten zu funktionieren, verschob die Vorstellung von dem, was ein Bild ist.

Seit der Antike gilt das Bild als Nachahmung der Natur. Das errechnete oder digitale Bild aber lässt sich nicht mehr als Abbildung in diesem Sinne bezeichnen. Horst Bredekamp und Franziska Brons zeigen in ihrem Aufsatz die Konstruiertheit und aufwändige Zurichtung technischer Bilder auf. Dass es ein Irrtum ist, ein winkendes Wirkliches jenseits des Bildes anzunehmen, wird nirgends deutlicher als in der Fotografie. Bredekamp und Brons betonen deshalb die mangelnde Objektivität eines technischen Bildes, das eben auch die subjektive Entstehungsgeschichte seiner selbst beinhaltet und deshalb nie nur Illustration von etwas ist.

Wissenschaftliche Objektivität wird so zur waghalsigen These, wie der Physiker Wolfgang M. Heckl in seinem Beitrag »Das Unsichtbare sichtbar machen« zeigt. Aufnahmen aus dem Nanobereich, die mittels Rastertunnelmikroskopie entstehen, haben bereits einen technischen Prozess durchlaufen, und das so entstandene Bild beruht auf einer Warscheinlichkeitsrechnung. Das Sehen auf atomarer Ebene hat rein gar nichts damit zu tun, wie wir zum Beispiel einen Apfel sehen. Von diesen Bildern aus dem Nanobereich können die Forscher nicht einmal sagen, ob sie mit den atomaren Strukturen exakt übereinstimmen, so dass diese Bilder Vorstellungsmodelle bleiben.

Bilder, ob technische oder künstlerische, haben deshalb eine eigene Komplexität, die durch eine einfache Bildunterschrift nicht darstellbar ist. Das Ziel des vorliegenden Bandes ist deshalb die Schärfung der Kritik und der Methoden im Umgang mit dem Medium Bild. Der Kunsthistoriker Willibald Sauerländer fordert sogar eine kritische Bild- und Medienwissenschaft, und die Probleme lauten beispielsweise so: Wenn die Bilder vom 11. September die Welt veränderten, was heißt das? Da der Folterskandal von Abu Ghraib erst durch Veröffentlichung von Bildern ins öffentliche Bewusstsein gelangte, stellt sich die Frage, warum Bildmedien so viel Wirklichkeit und Beweiskraft zuerkannt wird. Verbale Vorwürfe hätte die amerikanische Administration viel einfacher abwehren können. Andererseits: In der Werbung und der Propaganda wurden Bilder immer schon als Mittel zum Zweck betrachtet. Die viel zitierte Mediengesellschaft ist zu einem Bildergarten geworden. Es gibt kein Ereignis ohne sein Bild, wie Vilém Flusser es einmal ausdrückte. Willibald Sauerländer fordert deshalb eine Ökologie der Bilder, einen ökonomischen und ethischen Umgang mit ihnen.

Die Bilder-Wende wird auch in Abgrenzung zum Sprach-Wende-Verdikt des amerikanischen Philosophen Richard Rorty proklamiert, der die Komplexität der Welt in und durch Sprache erschlossen sah. Diese Welt-als-Buch-Sicht, die ihre Ursprünge unter anderem im christlichen Monotheismus hat, kommt für Horst Bredekamp einer »Trockenlegung« der poetischen Sprache gleich und bedeutet für ihn vor allem eine Reduzierung der Komplexität der Welt. Bilder hatten stets großen Einfluss auf Kulturen, aber seit dem 20. Jahrhundert, seitdem es errechenbare Bilder gibt, ist ihr Einfluss ständig gewachsen, so Friedrich Kittler. Die Rede vom Iconic Turn verweist deshalb zugleich auf Alltagsphänomene wie auch auf eine veränderte Kultur- und Wissenschaftsforschung und schließlich auf die Macht der Bilder. Deshalb spricht man in den USA – im Kontext einer anderen Auffassung von populärer Kultur- und Medienlandschaft – auch von einem pictorial turn.

Wie aber entstehen künstlerische Bilder? Der Band versucht auf diese Frage eine Antwort zu geben, indem er Künstler wie Bill Viola und Wim Wenders oder Architekten wie Stephan Braunfels und Norman Foster über das Entstehen von Bildern aus primärer Erfahrung sprechen lässt. Stephan Braunfels nimmt die Stadt als »Gesamtkunstwerk« in Augenschein und synthetisiert stadträumliche Gesamtkonzepte mit den Erfordernissen und dem Ausdruck moderner Architektur. Dabei orientiert er sich ganz traditionell an den klassischen Leitbildern städtebaulicher Anlagen Europas.

Funktionalität und Ästhetik sind Leitthemen bei Norman Foster. Die extrem erfindungsreichen technologischen Lösungen seiner Büros sind stets an den gegebenen Bedingungen orientiert. Zugleich besitzen die Gebäude auch eine unverwechselbare, nicht austauschbare Ästhetik. Fosters Entwürfe erscheinen so als Bildzeichen im Stadtraum, geschaffen, um ins kulturelle Gedächtnis einzugehen. Architektur erweist sich insofern als Ausdruck eines »Bildwillens«, weil die gebaute Stadt mehr ist als die bloße Funktion oder das Erfordernis, weil sie eben eine ästhetische Form ist.

Die Form wiederum bestimmt gänzlich das Schaffen der Augen-Künstler. Bill Viola generiert seine Videokunst aus einer existenziellen Befindlichkeit, aus Erfahrungsbildern. Die Verschränkung innerer Bilder mit der Welt da draußen ist für Bill Viola ein Kennzeichen künstlerischen Ausdrucks. Das Video »Nantes Triptych« (1992) zeigt Geburt und Tod als existenzielle Momente in bekannten Bildern, die ungewohnt miteinander verkettet sind. Das ästhetische Erlebnis stellt sich darüber hinaus durch die Aufeinanderfolge der Bilder her, was klassische Genres in Tafelbildern auszudrücken versuchten.

Die ganze Komplexität des Mediums Bild erschließt der Film. Der Zuschauer lässt sich auf einen permanenten Bilderstrom ein. An dieser Stelle beginnt die Verwechslung mit der Realität zum Signum eines erfolgreichen Filmes zu werden. Inwieweit Story, Kulisse und authentischer Ort gute Filmbilder erzeugen, ist eine der Hauptfragen für Wim Wenders. Authentische Orte, die assoziative Bilder erzeugen, besitzen für den Regisseur eine wirkliche »Aura«, die nachgebaute Studiolandschaften nicht erzeugen können. Inzwischen gibt es jedoch sehr erfolgreiche digitale Filme. Man vermisst im Buch jedoch ein entsprechendes Statement aus der Praxis des digitalen Kinos.

Schließlich beschäftigt sich der Medientheoretiker Hans Belting mit der These von der »Macht der Bilder«. Bilder sind für ihn vor allem das, »was wir mit ihnen machen oder an ihnen wahrnehmen«. Bilder lassen sich manipulieren und instrumentalisieren, sie lügen, man kann dies aber auch wissen. So bekommt die kulturpessimistische Kritik, die vor der Bilderflut warnt, eine praktische Handlungsanleitung an die Seite gestellt.

Nachdenkenswert bleibt auch nach dieser Lektüre, ob der tägliche Umgang mit Bildern wirklich nur eines imperativen Korrektivs bedarf. Schließlich können viele Zeitgenossen zwischen Bild und Realität nicht mehr unterscheiden oder fetischisieren das Bild.

Dass Bilder nicht mehr bloße Abbilder von Körpern sein müssen, demonstrieren die computergenerierten Körpermodelle; hier ist die klassische Repräsentationsfunktion, innerhalb deren das Bild als Repräsentant von Natur fungiert, aufgehoben. Die Macht der Bilder beruht – wie es schon die im Bilderverbot des Judentums mit ausgesprochene Warnung andeutet – auf der Einladung, das Abgebildete und das Abbild zu verwechseln. Im unkritischen Umgang mit dem Bild wird dieses selbst als Wesen anerkannt, es wird zum Ich-Ersatz oder zum Lustobjekt. Diese Gefahr geht auch von den neuen Medien aus.

Die Aufhebung der Repräsentationsstruktur – wenn das Bild nicht mehr für das Wesen oder das Ding steht – könnte, so Hans Belting, in naher Zukunft dazu führen, dass Bilder in nie gekanntem Ausmaß Referenzobjekte dafür sind, wie der Körper zu sein hat. Das digitalästhetisch erzeugte Bild, im Katalog wählbar, ist dann das Angebot des Gentechnikers, der den Körper des Kunden manipulieren soll. Spätestens dann befinden wir uns im Zeitalter des Bildes, welches laufen lernt.

Christa Maar und Hubert Burda (Hg.): Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder. DuMont, Köln 2004. 452 Seiten, 24,90 Euro