Die nette Stewardess

Mit Dido Armstrong und Vera am Mittag im Konzert. von florian scheibe

In dem Moment, als Dido Armstrong das erste Mal die Bühne betritt, bin ich genau sieben Meter von ihr entfernt. Sie trägt blaue Jeans und eine blaue Jacke, hat einen blonden, halblangen Pony über ihren blauen Augen und sieht aus wie eine Stewardess von British Airways, die von der Plattenfirma auf dem Flug nach Berlin als Dido-Double gecastet wurde. Ich stehe vor der Alten Nationalgalerie auf der Museumsinsel, die Nachmittagssonne scheint, ein paar Techniker stöpseln noch die letzten Kabel, am Mischpult werden Regler hin- und hergefahren, und Dido hält das Mikrofon in ihrer rechten Hand, als wäre es eine Sauerstoffmaske, mit der sie gleich die Verhaltensregeln für die Passagiere im Notfall erklären wird. Der Countdown läuft, noch zwei Stunden bis zum großen Start.

Das Konzert ist seit Wochen ausverkauft, 7 000 Leute wollen sie sehen, gemeinsam mit ihr abheben, Dido-Day in Berlin, und ich darf dabei sein, als Crew-Mitglied, mit Festival-Shirt, Walkie Talkie und Backstage-Ausweis für unschlagbare sieben Euro siebzig die Stunde. Das Intro ist beendet. Über Funk sagt irgendjemand »Achtung, Soundcheck …«, und die Frau, die aussieht wie Dido, hebt langsam den Kopf, blickt mir für eine Sekunde direkt in die Augen, führt die Sauerstoffmaske an ihren Mund, atmet tief ein und singt dann: »I know I think I shouldn’t still love or tell you that.« Cut. Zwei Stunden und unzählige akribisch abgerissene Tickets später (»Bitte vorsichtig, ich sammel die …«) stehe ich mitten drin zwischen lauter Menschen wie du und ich, Pauschaltouristen zwischen 13 und 73, Familien, Vater, Mutter, Kind, junge Pärchen, alte Pärchen, Bürofreundinnen, Kleingartenkumpels, Schulbanknachbarinnen und Lottotippgemeinschaften, händchenhaltend und gummibärchenessend, die gesamte untere bundesdeutsche Mittelschicht hat sich versammelt.

Und während die Sonne das Weltkulturerbe auf der Museumsinsel in purpurnes Abendrot taucht, die Videowände unruhig flackern und die Stare aus dem benachbarten Kastanien-Wäldchen aufgeregt kreischen, betritt die Stewardess, von der alle denken, sie sei Dido, endlich nach langen Minuten des Wartens die Bühne. Die Jeans bis zum Bauchnabel nach oben gezogen, die Haare gelegt wie bei einer Playmobilfigur, ein bisschen Make-up, und mittendrin eine hellblaue Trainingsjacke mit einem dunkelblauen Dido-Namenszug über dem Herzen, die man zufälliger Weise auch für 50 Euro an einem der Merchandising-Stände kaufen kann. Nach dem dritten Song, der exakt so klingt wie die zwei vorangegangenen und sehr ähnlich wie die zirka zwölf, die noch folgen werden, wird die Jacke ausgezogen, und stattdessen kommt ein ockerfarbenes Spaghettiträgerhemd zum Vorschein, das so aussieht wie der abgetrennte obere Teil von dem Kleid, das man auch in dem CD-Booklet bewundern kann.

Zu diesem Zeitpunkt ist längst klar, dass auch die falsche Dido weder singen noch tanzen kann, aber dafür mindestens ebenso gut wie das Original dazu in der Lage ist, mit ihrer linken Hand über ihrem Kopf herumzuwackeln, was wahrscheinlich daran liegt, dass es genau die Bewegung ist, die Stewardessen auch immer machen müssen, wenn sie ihren Passagieren pantomimisch die verschiedenen Notausgänge zeigen. Aber den 7 000 Menschen ist all das egal. Sie interessieren sich nicht für die Frage nach Original und Fälschung, nach Wahrheit oder Lüge. Sie wollen Gefühl und wiegen sich in ihren Hüften, Arm in Arm, ein riesiges glückliches Pärchen, und dazu singt es von oben solche Sachen wie: »I am in love and allways will be«.

Während ich meinen Blick über die sich wiegenden Körper schweifen lasse und dabei versuche, meinen Backstage-Ausweis noch ein bisschen auffälliger an mein Festivalshirt zu clippen, damit auch wirklich niemand auf die Idee kommen kann, ich sei freiwillig hier, löst sich plötzlich ein bekanntes Gesicht aus der großen Masse heraus.

Man kennt ja diese Momente, in denen man unerwartet Prominente in der Öffentlichkeit sieht. Eine seltsame Vertrautheit breitet sich mit einem Mal aus, warm und weich, ein Gefühl von Verbundenheit, wie man es sonst nur engen Freunden und nahen Verwandten gegenüber empfindet. So hat es sich angefühlt, als Mehmet Scholl einmal neben mir im Kino saß, und Sandra Maischberger mir gegenüber in der U-Bahn, und Oliver Welke hinter mir in einem Sessel in einer Espresso-Bar. Und genau so fühle ich mich in dem Augenblick, als ich Vera am Mittag bei Dido neben den Klocontainern entdecke. Eine Sekunde lang verspüre ich den Drang, »Hallo« zu sagen, zu fragen, wie es ihr denn geht, sie vielleicht sogar kurz in den Arm zu nehmen, mit ihrem fröhlichen, runden Moderatorinnen-Gesicht und in ihren gemütlichen Freizeitjeans.

Aber so wie ich schon seit Stunden weiß, dass die Museumsinsel-Dido nicht die richtige Dido ist, beginne ich nun daran zu zweifeln, ob denn die gemütliche, fröhliche Vera, die sich gerade mit ihren beiden Freundinnen direkt vor mich stellt, auch tatsächlich die Vera am Mittag von »Vera am Mittag« ist, unsere Vera, die wir alle so gut kennen. Denn so wie Dido Armstrong ohne ihre Bühne und ihre Trucks und die Lightshow, den Sonnenuntergang und die Alte Nationalgalerie unweigerlich zu einer unscheinbaren Economy-Class-Stewardess wird, die bei jedem Karaoke-Wettbewerb vermutlich Schwierigkeiten hätte, in die Endausscheidung zu kommen, so wird Vera am Mittag ohne ihr großes Studio und die vielen Kameras und ohne die ganzen traumatisierten, essgestörten, geschlagenen und vom Ex-Freund vergewaltigten Talk-Gäste zu einer etwas dicklichen rheinischen Plaudertasche, von der man ahnt, dass sie in der Mittagspause bei einem Putenbruststreifensalat mit Joghurtdressing Klatschgeschichten über ihre Bürokolleginnen erzählt.

Ich blicke mich suchend um. Keiner reagiert auf Vera. Alle blicken zu dem Dido-Double in der Ferne, niemand zu dem Original direkt neben ihnen. Und während ich versuche, mich von hinten wenig näher an Vera heranzupirschen, um mitzubekommen, was sie sagt und wie sie es sagt, wundere ich mich darüber, dass die eine Freundin damit beginnt, über Veras Schulter hinweg an Veras Ohrläppchen zu knabbern.

Hoch oben auf der Bühne winkt die Flugbegleiterin ins Publikum und sagt so etwas wie: »From all cities in Europe, Berlin is the one I love the most …«, und dabei sieht sie aus wie eine Volkshochschulkursteilnehmerin, die sich gerade für ein Referat gemeldet hat. Vera streckt währenddessen ungeachtet ihres Ohrläppchens ihre hochglanzlackierten Fingernägel nach oben, die eine ähnliche Farbe haben wie das Spaghetti-Träger-Oberteil auf der Bühne, und sagt dabei irgendetwas, von dem ich vermute, dass es mit ihrer Sendung zu tun hat. Ich überlege mir, ob ich sie vielleicht nicht einfach nach einem Autogramm fragen soll, um sicher zu gehen, dass es sich bei ihr auch wirklich um Vera am Mittag handelt und es sich für mich überhaupt lohnt, sie weiter zu beobachten.

Aber ich traue mich nicht. Stattdessen schaue ich wieder zu der Stewardess, die mit großen Schritten und der wackelnden Hand über ihrem Kopf von einer Bühnenecke zur anderen läuft, beobachte einen Song lang ein jugendliches Pärchen, das sich so inniglich in den Armen hält, als ob sie sich gegenseitig ersticken wollen, und werde von einem älteren Ehemann, der erfolglos versucht, seine ältere Ehefrau mit der Dido-Bühne im Hintergrund zu fotografieren, zur Seite geschubst. Und je später es wird, desto unsicherer werde ich, ob Vera tatsächlich Vera am Mittag ist, was einerseits damit zu tun hat, dass ich sie die letzten 20 Minuten nur von hinten gesehen habe und man Moderatoren im Fernsehen ja eher selten von hinten sieht, und andererseits damit, dass ihre Freundin ihr mittlerweile nicht nur am Ohrläppchen saugt, sondern auch an ihrem Hals und an ihrer Wange und an den Haaren und ich einfach nicht glauben will, dass Vera am Mittag, die ungeschlagene Expertin für emotionale Abhängigkeit, es zulassen würde, dass jemand sich derart physisch und psychisch von ihr abhängig macht.

Inzwischen ist die Nacht über die Museumsinsel hereingebrochen, sternenklar, ein Scheinwerfer strahlt den Schriftzug »Der Deutschen Kunst« über der Alten Nationalgalerie an, und die falsche Dido singt ihr letztes Lied. Die Reise neigt sich dem Ende zu, der Landeanflug hat begonnen. Eine letzte altbekannte Tonfolge perlt ins verzückte Publikum herab, Dido wackelt noch mal heftig mit ihrer Hand, und dann folgt die Landung: Jubel, Applaus, Gejohle und in genau diesem Moment, in dem Augenblick in dem die Stimmung auf dem Höhepunkt ist, dreht sich Vera am Mittag plötzlich um, lächelt und winkt direkt in die Menge herein. Und während sie winkt, zeigt sie uns für einen kurzen Moment lang das Gesicht, das keinen Zweifel mehr lässt, das Gesicht, das aus einem sanguinisch veranlagten Büromoppelchen eine bekannte TV-Moderatorin macht, aus einer einfachen Vera eine Vera am Mittag, aus einer Pauschaltouristin eine Luxus-Urlauberin. Ein wenig erleichtert zupfe ich mir mein Festivalshirt zurecht, hole mir eine Mülltonne und beginne damit, die fallen gelassenen Gummibärchentüten vom Kulturerbe-Boden aufzusammeln.