Wir sind die Roboter

Eine Schulung im Callcenter. von thorsten beck

Mama«, kräht das Mädchen, »da ist einer am Apparat, der will dich sprechen!« – und schon entfernt sich die Stimme. Wie ein Pilot sitze ich vor der Mattscheibe. Ich höre lange, schlurfende Schritte, bevor ein »Ja?« in meine Kopfhörer dröhnt. Ich sage der Mutter des Mädchens, wer ich bin und in wessen Auftrag ich anrufe und um welche Studie es geht, und das Geschrei eines Säuglings gellt in die Muschel, und schon ist die Leitung wieder tot. »Ich danke Ihnen für das Gespräch«, höre ich mich noch sagen, während meine Hand auf der Tastatur bereits die nächste Nummer wählt. Es gibt ein Freizeichen, ich zähle mit, die Zielperson hebt ab, eine alte Stimme zittert in mein Ohr, ich lese meinen Text, der vor mir auf dem Schirm flimmert, in den ich an der richtigen Stelle meinen Namen einfügen muss, dort, wo es ein paar Punkte mir anzeigen. »Wären Sie so freundlich, mir ein paar Fragen zu beantworten?« Wieder diese zitternde Stimme, die um sich selbst ringt, ich versuche sie zu entziffern, zu verstehen, denke, wie soll mir diese Stimme die Marke des Autos nennen, das am häufigsten in ihrem Haushalt benutzt wird, ich bedanke mich im Namen meiner Firma und breche das Interview ab. Das ist Deutschland am Nachmittag um halb drei, denke ich, entweder keiner zu Hause, oder nur einsame Rentner, überforderte Hausfrauen und betrunkene Arbeitslose.

Wie komme ich hierher, wie kommen wir hierher, frage ich mich und sehe all diese jungen und talentierten Gesichter, die auf die Monitore starren, die sich konzentrieren, die versuchen, keinen Fehler zu machen, die keine Frage und keine Antwort auslassen dürfen, denn sonst, so sagt die Supervisorin, »kann die Firma leider nicht mit Ihnen zusammenarbeiten«. Wer ist diese Firma, denke ich, die nicht mit jemandem zusammenarbeiten kann, der ein Wort übersieht? Die Frau, die uns das richtige Telefonieren beibringt, verzieht manchmal ein wenig das Gesicht, so dass es fast an ein Lächeln erinnert. Aber eben nur fast. Sie sagt uns, was wir sagen sollen. Sie sagt, es gibt hier keinen Platz für Ihre Persönlichkeit, hier ist nicht Ihre Schlagfertigkeit gefragt, sondern es geht darum, dass sie die Formulierungen, die ich Ihnen vorspreche, genauso nachsprechen. Wenn Sie eine Antwort notiert haben, sagen Sie: »Ist das so korrekt, oder darf ich zu diesem Punkt noch etwas für Sie aufnehmen?« In genau diesen Worten, sonst kann die Firma leider nicht mit Ihnen zusammenarbeiten. Ich sehe mich um. Neben mir sitzt Sven, ein netter Student aus der Nähe des Saarlands. Er ist nach Berlin gekommen, um Journalist zu werden, jetzt malt er auf sein Blatt: »Wir sind die Roboter«, und ich muss schmunzeln, weil er Recht hat. Als wir mittags Pommes essen, sagt er, dass er immer froh ist, wenn ein Job wieder vorbei ist, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass er sich etwas vormacht.

Die Luft in diesen Räumen ist staubig, abgestanden und elektrisch vibrierend zur gleichen Zeit. Ich nehme einen Schluck aus meiner Wasserflasche, da kommt auch schon die Zielperson an den Hörer. Ich verschlucke mich und muss gleichzeitig lachen. Ich hatte schon nicht mehr damit gerechnet, minutenlang hatte ich mich von Freizeichen zu Freizeichen gehangelt, von Anrufbeantworter zu Mailbox und wieder zurück. »Leider Pech, ich bin nicht da, aber du bist da, also sag du was, ich bin ganz Ohr«, hallte es in meinen Gehörgängen, das Knarzen alter, magnetischer Bänder, das metallische Kehlkopfgeplaudere einer virtuellen Stimme, oder einfach das schrille Pfeifen eines Fax-Gerätes. Deutschland um halb drei. Jetzt habe ich mit einem Mal einen wirklichen Menschen am Ohr, aber bevor ich runtergeschluckt habe, hat der schon zweimal »hallo« gesagt, und als ich mein Anliegen verlesen habe, lacht er nur und sagt: »Mann, so lahm, wie du bist, wird es ja nie was!«, und legt auf.

»Sollte jemand zu Ihnen unfreundlich sein, was immer wieder mal vorkommt, dann erwidern Sie mit Freundlichkeit«, sagt die Supervisorin. Je unfreundlicher man zu Ihnen wird, desto freundlicher werden Sie und sagen: »Danke, das war auch schon meine letzte Frage. Vielen Dank für Ihre Mithilfe im Namen unserer Firma und noch einen schönen Nachmittag«, und schon sind sie die Zielperson los.

Schon bin ich im Gespräch mit einer weiteren Rentnerin. Sie sagt, wenn es um Politik gehe, dürfe man ja heute nichts mehr sagen, aber jetzt, da es anonym sei, da sei es ja etwas anderes – kurzum, als der Adolf Hitler noch Kanzler war, da sei es auf den Straßen noch etwas anderes gewesen, als Frau, da war es doch sicherer, aber heute, man müsse es doch sagen dürfen, da sei es auf den Straßen nicht mehr sicher, weshalb es sich auch nicht mehr lohne, zu den Wahlen zu gehen. Ich sage … danke, ich habe verstanden. Ich weiß, dass es verboten ist, seine Meinung zu sagen. Die Zielperson könnte in ihrer eigenen Meinung beeinflusst werden, die Objektivität der Befragung steht dabei auf dem Spiel. Mein Gespräch wird mitgehört, die Supervisoren lauern auf einen kleinen Ausrutscher, einen kleinen Fehler, der mich untauglich machen würde, für die Firma zu arbeiten. Sag immer schön »danke« und »ich habe verstanden«, sonst bist du den Job schon wieder los, den du noch gar nicht hast.

Die Supervisorin sagt, dass wir nichts an den Fragen ändern dürfen, weder an der Reihenfolge noch am Wortlaut. Es handele sich um psychologisch ausgeklügelte Fragesysteme, die genau die Wirkung erzeugten, die beabsichtigt sei. Das hätten sich Profis ausgedacht. Wir könnten das nicht beurteilen. Jede auch noch so kleine Abweichung von der Vorlage würde zu einer Verfälschung des Ergebnisses führen, und das wiederum könnte den Fragebogen für den Auftraggeber wertlos machen. Das Worst-Case-Szenario wäre, dass die Firma den Auftraggeber verlöre. Sie sagt das mit derartigem Pathos, dass ich unwillkürlich um mich sehe, ob nicht der eine oder andere sich wenigstens zu einem Schmunzeln hinreißen lässt. Ich kann aber nirgends eine Regung erkennen. Alle haben ein Pokerface, aber man kann riechen, was sie von der ganzen Situation halten. Alle sehen gleich gelangweilt nach vorn, als würde dort die Luftfeuchtigkeitsstatistik der vergangenen fünf Jahre referiert. Ich denke, was wäre denn, wenn die Firma den Auftraggeber verlöre. Dann würde sie wahrscheinlich nicht mehr Hundertfünfzigmillionen, sondern nur noch Hundertneunundvierzigmillionen Nettogewinn im Jahr machen. Bei dem Gedanken komme ich mir in dieser Umgebung fast vor wie Che Guevara beim Bruderkuss mit Fidel Castro, irgendwo im bolivianischen Dschungel.

»Nun kommen wir zu einem anderen Thema. Was wären für Sie attraktive Freizeitbeschäftigungen? Gehen Sie gern mit Freunden spazieren oder gemeinsam mit Bekannten in ein Restaurant?« Meine Gesprächspartnerin hat mir gerade erzählt, dass ihr Mann vor drei Wochen gestorben ist und ich höre, wie sie schluckt und für einen Moment mit den Tränen kämpft, und ich sage, dass es mir leid tue, dass aber die Frage so auf dem Formular stehe und dass ich alle Fragen unverändert und vollständig stellen müsse, damit der Fragebogen gültig sei. Sie brauche nicht alle Fragen zu beantworten, aber ich müsse alle Fragen gestellt und alle Antworten vorgelesen haben. Darauf komme es an. Sonst würde ich nicht eingestellt, und das ganze Gespräch wäre sinnlos gewesen. Das sage ich ihr natürlich nicht, aber sie ist tapfer und hat sich die Tränen schon verbissen. Sie ist wohl froh, dass sie überhaupt mit jemandem sprechen kann. Wenn ihr Sohn vielleicht öfter mal vorbeikäme, dann würde sie auch gern in ein Restaurant gehen. Ich sage: »Ich habe verstanden und danke – wir kommen nun zu den Düften.« Sie lacht.

Irgendwann kommt die Supervisorin mit einem Schild, auf dem steht: »das war auch schon meine letzte Frage«, so dass ich weiß, dass ich das Gespräch, in dem ich mich gerade befinde, abbrechen darf. Die Seniorin am anderen Ende der Leitung klebt an mir wie Kaugummi. Ich danke ihr mehrfach im Namen der Firma, während sie immer wiederholt, dass, wenn sie noch einmal mit so einem jungen Mann ausgehen könnte wie mir, sie vielleicht auch noch mal in die Disco gehen würde. Ich sage, leider ist das Interview ja anonym, und lege auf. Ich gehe mit einer Mischung von Neugierde und Ekel hinüber zu der Supervisorin. Sie hält meinen Lebenslauf in ihren spitzen Fingern und sagt noch einmal diesen Satz, den sie schon so oft sagen musste. »Es tut mir leid, aber die Firma kann nicht mit Ihnen zusammenarbeiten.« Sie sieht dabei sehr müde aus, als müsste sie die große Last der Firma allein auf ihren Schultern tragen. Ich nicke nur, nach acht Stunden brennen meine Augen, der Rücken schmerzt, ich bin froh, an die frische Luft zu kommen. Obwohl ich nicht nachfrage, scheint die Supervisorin ihre Entscheidung rechtfertigen zu wollen. Sie sagt, am Anfang, bei der ersten Frage, ob die Zielperson in Deutschland wahlberechtigt sei, hätte ich es unterlassen, die Antwortmöglichkeiten vorzulesen. Ich erinnere mich. Die Antworten waren »ja« und »nein«. Die Zielperson sagte »ja«, sobald ich die Frage gestellt hatte. Ich musste vergessen haben, nochmals »ja« oder »nein« zu fragen. Ein dummer Fehler. Sie hatte so oft gesagt, dass wir keine Antwort auslassen dürften. Als ich an die frische Luft komme, denke ich, manchmal hat ein kleiner Fehler vielleicht auch etwas ganz Gutes.