Ab in die Mitte!

Die Proteste gegen George W. Bush von jörn schulz

Das Verfahren ist seit über 3 000 Jahren bekannt. Wenn man den gesellschaftlichen Frieden wahren will, ohne sich mit den Ursachen der Konflikte auseinanderzusetzen oder sie gar zu beseitigen, benötigt man einen Sündenbock, damit »der Bock alle ihre Missetat auf sich nehme und in die Wildnis trage, und man lasse ihn in der Wüste«, wie das 3. Buch Mose erläutert.

Derzeit ist es George W. Bush, dem alle Missetaten des globalen Kapitalismus aufgeladen werden, und jene etwa 250 000 US-Amerikaner, die am vorletzten Sonntag gegen den US-Präsidenten demonstrierten, sind nur ein kleiner Teil der globalen Koalition der Unwilligen, die ihn gerne in die Wüste schicken würde. United for Peace and Justice, die wichtigste der Organisationen, die gegen Bush mobilisierten, hielt es deshalb auch nicht für nötig, die Protestierenden mit politischen Parolen zu belästigen. Ein schlichtes »Die Welt sagt Nein zur Bush-Agenda« genügte.

Die Personalisierung führt zur Entpolitisierung, exemplarisch vorgeführt im Wahlkampfspot »Fahrenheit 9/11« von Michael Moore, der bei den Protesten einmal mehr gefeiert wurde. Der Irak-Krieg ist für Moore eine finstere Intrige des Bush-Clans, der sich die Taschen vollstopfen will. Und Moore gibt der Protestbewegung auch die Richtung vor. Gefragt ist jetzt nicht radikale Kritik, sondern der Schulterschluss mit der »Mitte«, symbolisiert von Lisa Lipscomb, der patriotischen Mutter eines im Irak getöteten Soldaten, die am Ende des Films gemeinsam mit Moore auf das Weiße Haus zugeht.

Seit der »Battle for Seattle« 1999, einer globalisierungskritischen Demonstration mit zumindest teilweise radikalen Ansätzen, hat sich die Protestbewegung mehr und mehr gemäßigt. Ein massenhafter Ansturm heiratswilliger Schwuler und Lesben auf die Standesämter könnte Druck machen für die Legalisierung der Homo-Ehe. Doch er könnte konservative Wechselwähler in die Arme Bushs treiben. Nach der Niederlage im Einzelhandelsstreik an der Westküste wäre ein »Million Workers March« auf Washington wenigstens ein Versuch, die weitere Absenkung der Löhne und die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen zu verhindern. Aber er könnte die Mittelschichten verschrecken.

In beiden Fällen haben die mit der Demokratischen Partei verbündeten Führungsgremien der Gewerkschaften und sozialen Bewegungen die mobilisierungswillligen Aktivisten ausgebremst. Das tun sie allerdings fast immer, und ihr Erfolg ist nur damit zu erklären, dass sich die Mehrheit der Linken und der liberals die Mäßigung selbst zu eigen gemacht hat.

Man konzentrierte sich auf die Mobilisierung nach New York. Schwere Krawalle mit Beteiligung von ehemaligen Aktivisten der Stadtguerillagruppe Weather Underground prophezeite die rechte New York Post, doch selbst die Anarchisten blieben brav. Gedankt wurde es den Demonstranten nicht. Obwohl während der fünftägigen Proteste in New York kein einziger Stein flog, wurden nach offiziellen Angaben 1 735 Menschen wegen unordentlichen Verhaltens, Verkehrsbehinderung und ähnlicher Delikte festgenommen.

Der Einfluss und die Bewegungfreiheit der Linken haben sich durch Anpassung noch nie vergrößert. Die Rechtsentwicklung der US-Politik aufzuhalten, ist das dominierende Motiv für die Unterstützung Kerrys. Doch eine Bewegung, die diese Entwicklung zum Produkt einer Person erklärt, die nur aus dem Weißen Haus entfernt werden müsse, um die Dinge zum Guten zu wenden, verwechselt Exorzismus mit Politik. Wer vom Kapitalismus nicht reden will, sollte von Bush schweigen.