Burgfrieden oder Religion

Trotz des neuerdings geltenden Kopftuchverbots sind die französische Regierung und moslemische Organisationen durch den Entführungsfall im Irak näher zusammengerückt. von bernhard schmid, paris

Der Kopftuchkrieg blieb aus«, schrieben französische Medien übereinstimmend, als nach zwei Monaten Sommerferien der Unterricht Ende vergangener Woche ohne größere Zwischenfälle wieder begonnen hatte. Mit Beginn des Schuljahrs trat die heiß diskutierte Regelung in Kraft, wonach an Schulen auffällige religiöse Symbole verboten sind. Das bedeutet vor allem ein Kopftuchverbot für muslimische Schülerinnen. Das entsprechende Gesetz war Mitte März vom Parlament angenommen worden. (Jungle World, 8/04)

Etwa 250 Mädchen erschienen am Donnerstag mit bedecktem Kopfhaar am Schultor. Die meisten von ihnen kamen dann aber der Aufforderung nach, ihre Kopfbedeckung im Klassenraum abzulegen. Leila, eine 19jährige Schülerin in Villeneuve-d’Ascq bei Lille, nahm ihr Tuch vor dem Schultor vom Kopf und erklärte: »Ich habe keine Wahl, ich kann es mir nicht leisten, meine Schulausbildung abzubrechen.« Der Unterrichtsbeginn an dieser Schule im ehemaligen Industriegebiet an der belgischen Grenze wurde von den Medien besonders aufmerksam beobachtet. Im vergangenen Schuljahr waren dort 52 Kopftuchträgerinnen registriert worden.

Lediglich in der ostfranzösischen Region Elsass stellte sich die Situation in einigen Orten anders dar. Insgesamt wurden dort etwa 100 »widerspenstige« Kopftuchträgerinnen gezählt. Das hängt vor allem damit zusammen, dass im Elsass keine Trennung zwischen dem Staat und den christlichen Kirchen besteht, wie im übrigen Frankreich. Nach der Wiederangliederung an die République Française 1918/19 wurde im Elsass das Konkordat aus der Zeit, als die Region zu Deutschland gehörte, beibehalten. Insofern kann der republikanisch-universalistische Anspruch des französischen Laizismus hier nicht gegenüber muslimischen Kopftuchträgerinnen geltend gemacht werden.

Hinzu kommt, dass die Einwanderer im Elsass vorwiegend türkischer und marokkanischer Herkunft sind. Sie sind oft traditioneller orientiert, vor allem wenn sie in ihren Herkunftsländern ländlichen Bevölkerungsgruppen angehörten. Dort ist die Bindung an die Religion noch besonders stark. Das ist bei den algerischen Immigranten, die im übrigen Frankreich die größte Einwanderergruppe bilden, so nicht der Fall; bei ihnen war dies weniger traditionell bestimmt, sondern eher an die Konjunktur der islamistischen politischen Bewegung gekoppelt. Schließlich hat das Elsass von allen französischen Regionen neben der Côte d’Azur den höchsten rechtsextremen Wähleranteil. Deswegen sehen sich viele Einwanderer hier in der Defensive; in diesem Kontext nehmen identitäre Ideologien auch bei den Moslems zu.

Zunächst schien die allgemeine Spannung kurz vor Schuljahresbeginn dadurch verschärft zu werden, dass am 20. August die beiden französischen Journalisten Christian Chesnot und Georges Malbrunot im Irak entführt wurden. Chesnot arbeitete für Radio France International, Malbrunot vor allem für den Pariser Figaro. Die Terroristen forderten am vorletzten Samstag ultimativ von Paris, das Kopftuchverbot wieder abzuschaffen. Die beiden Geiseln mussten vor einer Leinwand mit dem Schriftzug »Islamische Armee im Irak« posieren und erklären, das Gesetz müsse zurückgenommen werden, sonst könnte ihrem Leben »jede Minute« ein Ende bereitet werden. Diese bewaffnete, mutmaßlich nicht sehr große Gruppe hat sich im Irak zu 163 Entführungen und 16 Mordanschlägen bekannt. Wahrscheinlich hat die »Islamische Armee« Malbrunot und Chesnot nicht direkt entführt, sondern hat die Geiseln – vor dem Hintergrund eines in zahlreiche Gruppen und Grüppchen zersplitterten Untergrunds – als meistbietende Organisation erst nachträglich »eingekauft«.

Nicht zum ersten Mal gerät Frankreich in das Visier arabischer oder islamistischer Geiselnehmer und bewaffneter Kampfgruppen. So explodierte 1985 und 1986 in Paris eine Reihe von Bomben in Kaufhäusern oder auf öffentlichen Plätzen, während sich im damaligen Bürgerkriegsland Libanon mehrere französische Geiseln teilweise drei Jahre lang in der Gewalt von Gruppen befanden, die der schiitischen Hizbollah nahe standen. Damals handelte es sich freilich um einen noch überwiegend parastaatlichen Terrorismus, im konkreten Falle im Interesse des Iran.

Die Anschläge und das Festhalten der Geiseln zielten auf Frankreich, das damals einseitig das irakische Regime unter Saddam Hussein aufrüstete, während andere westliche Großmächte wie die USA und die Bundesrepublik Deutschland sowohl den Irak als auch den Iran mit Waffen belieferten. Die Anschläge in Frankreich wurden von palästinensischen und libanesischen Splittergruppen mit Verbindung zum Iran durchgeführt. Die französische Regierung gab am Ende den Forderungen nach: Vier Tage, bevor der damalige Premierminister Jacques Chirac sich im Mai 1988 zum Präsidenten wählen lassen wollte was jedoch misslang, kamen die Geiseln im Libanon frei. Frankreich hatte Millionensummen bezahlt und zugesichert, den Waffenlieferungen an den Irak ein Ende zu setzen; der acht Jahre währende Krieg zwischen Iran und Irak stand damals ohnehin kurz vor dem Ende.

Im Zeitraum von Juli 1995 bis Dezember 1996 explodierten erneut Bomben in Pariser Vorortzügen und Metrostationen. Hinter den Attentaten, die insgesamt zwei Dutzend Todesopfer und rund 300 Verletzte forderten, standen die »Bewaffneten islamischen Gruppen« GIA aus Algerien, die in Europa, vor allem in London, ein Netzwerk aufgebaut hatten. Die GIA machten Frankreich als ehemalige Kolonialmacht für zahlreiche Probleme Algeriens verantwortlich. Reichlich »irre« waren allerdings ihre Forderungen. Verlangt wurde unter anderem, dass Staatspräsident Jacques Chirac zum Islam konvertieren solle. Nachvollziehbar war, dass kaum jemand den Inhalt der Forderungen ernst nahm.

Die Reaktionen auf die terroristischen Aktionen in den Jahren 1986 bis 1988 waren geprägt von einer offen durch rechte politische Kräfte angeheizten »Kopf ab!«- sowie »Araber Raus«-Stimmung, worin der Front National und der damalige nationalkonservative Innenminister Charles Pasqua miteinander wetteiferten. Heute dagegen versucht man, die arabischen Einwanderer, auch ihre religiösen Elemente, einzubinden. Ab dem ersten Tag der Entführung nahm ein beträchtlicher Teil der Immigrationsbevölkerung an den Pariser Kundgebungen für die Freilassung der beiden französischen Geiseln teil. Viele distanzierten sich ganz spontan von den Entführern und ihren Forderungen, um nicht mit ihren kriminellen Praktiken identifiziert zu werden. Andere erschienen nach Aufforderung durch religiöse muslimische Vereinigungen. »Auch wir sind in gewisser Weise als Geiseln genommen worden«, wenn die Entführer sich zu vermeintlichen Fürsprechern der französischen Muslime aufschwingen, betonte etwa der Präsident der UOIF (Union des organisations islamiques de France), Laj Thami Breze, in einem Interview mit der französischen Boulevardzeitung Le Parisien.

Die UOIF ist eine konservativ-reaktionäre moslemische Vereinigung, die in den letzten zwei Jahren von einem Teil der regierenden französischen Rechten zum Gesprächspartner der Einwandererbevölkerung aufgebaut wurde. Ihr Bedeutungszuwachs äußert sich etwa darin, dass ihr ein Platz in dem 2003 neu eingerichteten Repräsentativrat der französischen Muslime (CFCM) gesichert wurde. Die einzelnen Organisationen wurden dabei abhängig von der Größe ihres Gebetsraums – und damit ihrer Finanzkraft – berücksichtigt, nicht nach ihrem realen Einfluss in der muslimischen Bevölkerung. Deswegen wurden konservativ-reaktionäre Kräfte überproportional bedacht, auch wenn den Vorsitz im Rat der aus Algerien stammende Dalil Boubakeur innehat, ein erwiesener Gegner der Islamisten.

In der aktuellen Krise hat der bisher umstrittene CFCM jedoch seine definitive Anerkennung erfahren. Am Mittwoch voriger Woche entsandte der Repräsentativrat der Moslems eine eigene Delegation in den Irak, die dort mit den unterschiedlichen politischen und religiösen Strömungen in Kontakt treten und für die Freilassung der beiden französischen Geiseln plädieren sollte. Ihr Vorgehen stimmte die Delegation dabei in Amman mit dem französischen Außenminister, Michel Barnier, ab, der seinerseits vor zwei Wochen zu einer Rundreise durch die Region aufbrach, die ihn nach Kairo, Amman und in die katarische Hauptstadt Doha führte.

In gewisser Weise hält die französische Medienöffentlichkeit in der momentanen Krise ein doppeltes Identifikationsangebot bereit: die Union sacrée – die französische Entsprechung zu dem deutschen Wort »Burgfrieden« – und den »nationalen Schulterschluss« für die »eingeborenen« Franzosen, die Religion für den eingewanderten, überwiegend maghrebinischen Bevölkerungsteil. Erleichtert wird dies einerseits durch die derzeitige Schwäche der extremen Rechten unter Jean-Marie Le Pen, der nach 30 Jahren an der Spitze des Front National aus Altersgründen jetzt seine Nachfolge einleiten muss. Andererseits spielt beim derzeitigen Vorgehen das außenpolitische Interesse Frankreichs, das gerne als Großmacht und »verständnisvollerer Partner als die USA« im Nahen Osten ernst genommen werden möchte, eine große Rolle.

Unabhängig von europäischen Interessen hat Frankreich offensichtlich Pluspunkte für seine eigenständigen außenpolitischen Ambitionen sammeln können, da zahlreiche Kräfte im Nahen Osten – von der palästinensischen Hamas bis zur iranischen Regierung – sich bei ihrer Unterstützung für die Freilassung von Chesnot und Malbrunot explizit positiv auf Frankreichs Rolle als »Gegengewicht zu den USA in der Region« bezogen. Französische Nachrichtendienste haben seit den Entführungsfällen der achtziger Jahre zahlreiche Kenntnisse über nahöstliche Islamistengruppen gesammelt. Derzeit rühmen sie sich sogar in der Öffentlichkeit damit, über bessere Kenntnisse hinsichtlich dieser Gruppen zu verfügen als die Geheimdienste der USA. Denn diese hätten in den achtziger Jahren noch hinsichtlich einer Beobachtung dieser Gruppen abgewunken, weil »der Kommunismus die wirkliche Bedrohung« sei. Dem französischen Staat ermöglichen diese Kenntnisse eine Politik des Zuckerbrots wie der Peitsche. Momentan scheint es mehr Zuckerbrot zu geben.