Das System kriegt die Krise

Weil das ganze politische System in einer Legitimationskrise steckt, haben nicht einmal Populisten wie Oskar Lafontaine Erfolg. von felix klopotek

Gut möglich, dass Bundeskanzler Schröder den Sommer liebt, Toskana hin oder her. Vor vier Jahren konnte er zu dieser Jahreszeit den berüchtigten »Aufstand der Anständigen« inszenieren und sich selbst als modernen, aufgeklärten, aber dennoch volksnahen Politiker präsentieren. Vor zwei Jahren waren es der vorhersehbare Irak-Krieg und eine Flut in Ostdeutschland, die ihm die Wiederwahl sicherten. Dieses Jahr sind es, so verrückt das zunächst klingt, die Proteste gegen Hartz IV, die dem Kanzler und seiner SPD in die Hände spielen könnten.

Es ist vielleicht noch zu früh, von einer Trendwende zu sprechen, aber einige Verschiebungen zeichnen sich bereits ab. Der Sinkflug der SPD ist gestoppt. Entscheidender noch ist, dass die CDU nicht mehr von der Schwäche der Regierunge profitiert. Sie muss Farbe bekennen zu Hartz IV, zu eben den Reformgesetzen, die sie mit beschlossen hat. Die CDU als Protestpartei, das kann nicht funktionieren, nicht nur, weil die meisten Hartz-Gegner in ihr auch eine Regierungspartei sehen.

Hinzu kommt, dass die Anti-Hartz-Proteste zurzeit hauptsächlich ein ostdeutsches Phänomen sind. Die größte westliche »Montagsdemonstration« am 30. August fand in Dortmund mit geschätzten 1 000 Teilnehmern statt. Im Westen hat Schröder mit seiner Kompromisslosigkeit mehr Erfolg. Im Osten gewinnt, bis zum nächsten Wahlerfolg der Neonazis, vor allem die PDS. Auch das dürfte Schröder recht sein. Eine PDS, die vielleicht den nächsten Ministerpräsidenten in Brandenburg stellen wird und die sich in den Protesten nicht radikalisiert, sondern sich staatsmännischer und besonnener denn je gibt, könnte im Jahr 2006 Bestandteil einer bundesweiten Linksregierung werden. Schafft sie den Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde, bleiben die Grünen weiterhin erfolgreich und stabilisiert sich die SPD, dann ist eine rechtsliberale Koalition keineswegs mehr sicher.

Doch die letzte Stunde vor Tagesanbruch ist bekanntlich die dunkelste und die kälteste. Gerhard Schröder wird sich das einreden und sich insgeheim freuen, dass ausgerechnet zu dieser Stunde Oskar Lafontaine auftritt, der national-soziale Populist, wie die einen polemisieren, der Chávez von der Saar, wie die anderen hoffen. Wenig davon stimmt, denn die Rolle des Populisten ist im deutschen Parteiensystem kaum zu spielen. Zu reguliert ist es immer noch, zu sehr auf Ausgleich, Konsens, Vermittlung und gegenseitige Mäßigung bedacht. Den Eindruck, eine bestimmte Klientel werde bevorzugt, wollen alle etablierten Parteien vermeiden. Schließlich soll eine stabile Politik den Ordnungsfaktor gegenüber einer heißlaufenden Wirtschaft geben.

Mit dem Populismus versuchen es viele, sogar Hans Eichel, wenn er die Offenlegung der Managergehälter verlangt. Das ist in Maßen populistisch, aber vor allem »moralisch korrekt«. Ronald Schill, Jürgen Möllemann, auch Gregor Gysi – sie alle hatten oder haben nur begrenzten Erfolg; die Politstars sind am Ende doch die Biederen wie Lothar Bisky oder die Streber wie Joschka Fischer und seine Grünen-Clique.

Lafontaine weiß vom anti-populistischen Charakter der deutschen Politikszene, schließlich ist er lange genug ihr Protegé gewesen, und er weiß auch, dass er kein Tribun ist, der die Massen zum Sozialismus inspiriert (wie das viele Linke vom venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez erwarten). Zu oft ist er gescheitert, als Kanzlerkandidat, als Parteivorsitzender und als Finanzminister. Sein Auftritt in Leipzig am Montag vergangener Woche hat offensichtlich nicht für einen bedeutenden Zuwachs an Demonstrierenden gesorgt. Die meisten wären auch ohne Lafontaine gekommen. Eier sollen geflogen sein. Schließlich sein Programm: eine krude Mischung aus unwahrscheinlichem Post-Keynesianismus und dumpfen Parolen. Zu schräg, zu unglaubwürdig.

Daher rührt sein ständiges Zögern und Zaudern, dieses Hinausschieben der Ereignisse: Tritt er aus der SPD aus oder nicht, macht er mit Gysi gemeinsame Sache oder nicht, kommt er nach Leipzig oder nicht? Legte er die Karten offen auf den Tisch, hätte er schon verloren.

Einfacher wäre es, wenn Lafontaine die Rolle des Populisten voll und ganz spielen könnte: Der Populist tritt mit Getöse auf und feiert unvermittelt einen spektakulären Erfolg. Im Moment seines Erfolges beginnt sein Abstieg, seine Entzauberung. In den Niederungen der Realpolitik entpuppt er sich als inkompetent und ahnungslos, oder er verheddert sich in Skandälchen. Die Fälle Schill und Möllemann sind dafür die jüngsten Beispiele. Würde Lafontaine versuchen, es ihnen gleich zu tun, träte er forsch auf, würde mit einer neuen Linkspartei die SPD in der Mitte spalten und eine Linksregierung einfordern. Stattdessen gäbe es aber eine große Koalition, und die Parteigänger Lafontaines kehrten reumütig zur SPD zurück.

Dass dieser Politmechanismus so oder so ähnlich ablaufen wird, ist unwahrscheinlich, und der Triumph Schröders über Lafontaine erweist sich aller Voraussicht nach als Pyrrhussieg. Das absehbare Scheitern Lafontaines ist nur oberflächlich ein Erfolg der Beharrlichkeit Schröders.

Wer in diesen Tagen Erlebnisberichte über die Montagsdemonstrationen liest, bekommt eine matte, zutiefst resignierte, bisweilen apathische Stimmung vermittelt. Kaum ein Protestierender glaubt daran, dass die Gesetze noch geändert werden, dass er der autoritären Armutsverwaltung und dem zweiten, dem Niedriglohnarbeitsmarkt entkommen kann. Es gibt einen diffusen Hass auf Politiker – nicht mehr, eher weniger – und Korruption und eine ebenso diffuse Sehnsucht nach 1989, als das damalige Regime, anstatt die Proteste auszusitzen, sich tatsächlich vom Acker machte.

Die Proteste sind Ausdruck einer Legitimationskrise des Systems, die im Osten zuerst und besonders deutlich zum Ausdruck kommt. Denkbar gering sind die Erwartungen an die Politik, und nur bei dem allergröbsten Unsinn wird aufgemuckt. Das sind schlechte Zeiten für Populisten. Als Aufwiegler gehören sie zum parlamentarischen System wie ehemalige K-Grüppler zu den Grünen. Sie variieren die ewige Wiederkehr des Gleichen, sie geben sich besonders aufmüpfig, weil sie das System sowieso nur moralisch entrümpeln wollen. Dazu muss man ihnen aber glauben. Selbst wenn die Hartz-Verlierer es wollten – Lafontaine kann man nicht glauben, weil er zu verquast, zu westlich, zu sehr alte Sozialdemokratie ist.

In Folge der Delegitimierung sinkt die Wahlbeteiligung und löst sich die Wählerbindung auf. Wer gerade nicht an der Regierung ist, wird gewählt. Mal links, mal rechts. Das kennt man bereits aus den Nachbarländern. In Italien findet alle paar Monate ein Generalstreik statt, und am Ende wird wieder Berlusconi gewählt. Die Erosion der bald 60 Jahre alten politisch-sozialen Institutionen, deren Installierung im Osten nach 1989 nur ansatzweise geglückt ist, macht Fortschritte. Auch in Deutschland, der am meisten obrigkeitshörigen Demokratie. Die Linke sollte sich mit apokalyptischen Beschwörungen ebenso zurückhalten wie mit klassenkämpferischen Prognosen.