Adler und Jihad

Nach dem Massaker von Beslan von jörn schulz

Tschetschenen »sind mir wertvoller als andere«, erklärte Schamil Bassajew, der als Hauptverantwortlicher für den Massenmord in Beslan gilt, bereits während des ersten Krieges Mitte der neunziger Jahre. Der islamistische Warlord bestand darauf, dass das »russische Volk« für die in Tschetschenien begangenen Verbrechen verantwortlich sei und niemals »spirituellen Frieden« finden könne, weil es sich mit dem »monströsen« doppelköpfigen Adler ein gotteslästerliches Wappen gewählt habe.

Kann man mit Leuten verhandeln, die von islamistischem Missionsdrang und Wahnideen angetrieben werden? Die bisher vorliegenden Augenzeugenberichte haben die russsische Regierung in einigen Punkten entlastet, so scheint der Sturm auf die Schule tatsächlich eine spontane Reaktion auf eine Explosion in der Turnhalle gewesen zu sein. Gleichzeitig wurden neue Vorwürfe laut. Bewaffnete Zivilisten, die sich am Sturmangriff beteiligten, berichteten gegenüber AP, dass die Sicherheitskräfte sich von ihnen Munition leihen mussten. Einige Wehrpflichtige sollen am Beginn der Schießerei geflohen sein.

Zahlreiche Details der Geiselnahme sind weiterhin ungeklärt oder umstritten, zweifellos aber hatte die russische Regierung die Lage zu keinem Zeitpunkt unter Kontrolle. Die Ankündigung des Generalobersten Juri Balujewski, »präventive Schläge« gegen »Terrorbasen in jeder Region« durchzuführen, dürfte da eher eine Ablenkung vom Versagen im Inland sein als der Beginn einer globalen Offensive.

Putin behilft sich mit nationalistischen Appellen und Schuldzuweisung im Stil arabischer Verschwörungstheoretiker. »Einige wollen ein saftiges Stück unseres Reichtums herausreißen, andere helfen ihnen dabei. Sie glauben immer noch, dass die Nuklearmacht Russland sie bedroht«, behauptete Putin über jene, für die der »Terrorismus nur ein weiteres Mittel zur Verfolgung ihrer Ziele ist«. Wer »sie« sind, erläuterte der Präsident nicht.

Selten waren sich die Regierungen der USA, Frankreichs und Deutschlands in den letzten Jahren so einig wie bei der Solidarisierung mit Putin, der ihnen als Garant für die Stabilität Russlands gilt. Nicht einmal über die islamischen Staaten kann der russische Präsident sich beklagen. Zum Gipfeltreffen der Organisation der Islamischen Konferenz im vergangenen Oktober, auf dem die Unterdrückung der Muslime durch den Westen beklagt wurde, war Putin als Ehrengast geladen. Auch Mahnungen in Sachen Menschenrechte bleiben rar, obwohl nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen seit 1994 mehr als 150 000 Tschetschenen getötet wurden und Guantánamo im Vergleich zu den russischen Gefangenenlagern ein luxuriöser Ferienpark ist.

Die Brutalität der russischen Kriegsführung erklärt den islamistischen Terror nicht, der ein eigenständiges politisch-ideologisches Projekt verfolgt. Die Zerstörung Tschetscheniens hat jedoch die Warlordisierung und damit die Machtübernahme islamistischer Feldkommandanten begünstigt. Der Konflikt begann als Streit über die Aufteilung der Sowjetunion zwischen den Separatisten Boris Jelzin und Dschochar Dudajew, dem ersten tschetschenischen Präsidenten. Doch für die islamistischen Warlords wäre ein unabhängiges Tschetschenien nur eine Basis für die Fortsetzung des Jihad. Für eine Kompromisslösung ist es möglicherweise zu spät. Ein militärischer Sieg Russlands ist jedoch unwahrscheinlich, und wenn die Eskalationsstrategie der Islamisten erfolgreich ist, könnte die Warlordisierung auch Nordossetien und andere Nachbarregionen Tschetscheniens erfassen.