Die Angst im Nacken

Nach einer globalisierungskritischen Demonstration in Guadalajara wurden Verhaftete von der Polizei gefoltert. Die Regierung lehnt eine Untersuchung ab. von wolf-dieter vogel, mexiko-stadt

Guadalajara am 28. Mai dieses Jahres: Mehrere tausend Menschen demonstrieren in der mexikanischen Metropole gegen den dritten Gipfel der Staats- und Regierungschefs Lateinamerikas, der Karibik und der Europäischen Union. Gewerkschafter, Bauern und junge Globalisierungskritiker aus ganz Mexiko sind in die Hauptstadt des Bundesstaates Jalisco gereist, um ihrem Unmut über die Freihandelspolitik und die Privatisierung staatlicher Betriebe Ausdruck zu verleihen. Kurz vor Ende der Demonstration versuchen einige Vermummte, in die durch Metallzäune und Polizisten gesicherte Innenstadt vorzudringen – dorthin, wo das internationale Treffen gerade stattfindet. Es kommt zu Ausschreitungen. Supermärkte werden geplündert, Banken zerstört. Die Polizei nimmt über hundert meist junge Demonstranten fest.

Etwa die Hälfte der Festgenommenen bleibt vorerst in Haft. 47 konnten nach Zahlung einer Kaution den Knast verlassen, müssen sich aber regelmäßig bei den Behörden in Guadalajara melden. Eine Frau und 16 Männer sitzen noch heute im Gefängnis. Die Strafverfolger werfen ihnen Raub, Bandenkriminalität, Sachbeschädigung und Aufruhr vor. Doch die Gefangenen erheben schwere Vorwürfe gegen die Sicherheitsbeamten: Man habe sie gefoltert und zu belastenden Aussagen gezwungen. Viele seien erst Stunden nach der Demonstration und ohne Beweise festgenommen worden.

»Sie sagten, dass sie uns foltern, vergewaltigen und uns umbringen werden«, berichtet Minerva Rojas über ihre Verhaftung. Dann erzählt die Studentin, wie die Frauen in gesonderte Räume gebracht wurden und sich dort ausziehen mussten. »Die Beamtinnen zwangen uns, nackt Kniebeugen zu machen. Und während wir mit den Händen im Nacken unsere Kniebeugen machten, öffneten die männlichen Beamten die Türen und witzelten über uns, sprachen darüber, welche die Schönste sei, mit welcher sie es nun treiben würden.«

Zudem sei ihnen einer ihrer Mitgefangenen vorgeführt worden, dessen Körper mit einem Plastiksack bedeckt gewesen sei, sagt Rojas. Unter Schlägen sei der junge Mann aufgefordert worden, andere zu belasten. Der ebenfalls festgenommene Student Oscar Chávez erinnert sich, dass einige Mitgefangene wegen der Plastiktüten beinahe erstickten und »mit Stromstößen durch ihre Hoden gefoltert« worden seien. Er selbst sei infolge der Schläge mehrmals in Ohnmacht gefallen.

Ihre Erfahrungen berichteten die »Altermundistas«, wie sich die Globalisierungskritiker nennen, auch der mexikanischen Staatlichen Menschenrechtskommission (CNDH). Mitte August veröffentlichte die CNDH das Ergebnis ihrer Untersuchung. In 19 Fällen wurde demnach gefoltert, 73 Demonstranten und Demonstrantinnen nahm die Polizei rechtswidrig fest, und es gab 55 Fälle, in denen Menschen brutal und erniedrigend behandelt wurden. Der Ombudsmann José Luis Soberanes forderte eine Aufklärung der Fälle. Anfang September bestätigte der UN-Menschenrechtskommissar Anders Kompass den CNDH-Bericht.

Edgar Cortez, der Sprecher des unabhängigen Menschenrechtsverbundes Todos los derechos para Todos, erhält immer wieder Berichte über Folterungen in mexikanischen Gefängnissen. Gemeinhin diene die Folter weiterhin dazu, Aussagen zu erzwingen, oder sie werde als Form der Repression gegen Gefangene angewendet, sagt Cortez. Im Fall von Guadalajara handele es sich aber um eine spezielle Sache: »Man wollte ein deutliches Zeichen setzen und klarstellen, dass jene, die sich an globalisierungskritischen Aktionen beteiligen, mit dieser Form von Aggression zu rechnen haben.«

Der rechtsliberale Präsident Vicente Fox war angetreten, um Schluss zu machen mit Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen. Er wollte die Strukturen des Regimes überwinden, mit dem sich zuvor 71 Jahre lang die Partei der Institutionalisierten Revolution (Pri) an der Macht gehalten hatte. Folgerichtig sprach er am 1. September in seinem jährlichen Rechenschaftsbericht von Erfolgen in Sachen Menschenrechte.

Doch davon könne auch nach vier Jahren der Regierung Fox kaum die Rede sein, meint Cortez. Zwar habe sich der Diskurs gewandelt, doch an den Ursachen für Menschenrechtsverletzungen sei nichts geändert worden. »Die Regierung ist weder bereit noch fähig, sich der Situation in den Bundesstaaten zu stellen, in denen die schlimmsten dieser Verbrechen stattfinden.« In seinem Rechenschaftsbericht hat sich Fox nicht zu den Foltervorwürfen geäußert.

Francisco Ramírez Acuña, der Gouverneur des Bundesstaates Jalisco, dessen Beamte für den Einsatz in Guadalajara verantwortlich sind, weigert sich, wegen der Foltervorwürfe zu ermitteln. Alles Lüge, meint der Gouverneur, obwohl selbst UN-Kommissar Kompass nahegelegt hat, die Empfehlungen der CNDH umzusetzen. Auch den Vorschlag des Ombudsmanns Soberanes, sich einer öffentlichen Debatte zu stellen, lehnte Acuña ab: »Das würde den Rechtsstaat und die Glaubwürdigkeit der Institutionen verletzen.«

Angesichts dieser Haltung sowie der Ignoranz der Regierung Fox will der Rechtsanwalt Adrian Ramirez López, der einige der angeklagten Demonstranten und Demonstrantinnen verteidigt, die Fälle nun vor die Interamerikanische Menschenrechtskommission bringen. »Auf diesem Wege erhoffen wir uns eine internationale Antwort, mit der wir auf die mexikanische Regierung Druck ausüben können«, erklärt der Anwalt. Rückendeckung erhofft er sich auch von der Europäischen Union. Schließlich sei im Paragrafen eins des Freihandelsvertrages der EU mit Mexiko festgeschrieben, dass sich beide Vertragspartner der Einhaltung der Menschenrechte verpflichten.

Straffreiheit für Folterer und Polizeibeamte, die Oppositionelle misshandeln – das erinnert an den »schmutzigen Krieg« der siebziger Jahre. Mindestens 500 Linke »verschwanden« damals, als sie sich in der Hand der Militärs befanden. Die Angehörigen kämpfen weiterhin für die Aufklärung der Fälle.

Diese Geschichte Mexikos ist auch vielen Jüngeren präsent, die diese Zeit nicht selbst erlebt haben. Minerva Rojas dachte sofort an den Terror der Militärs, als die Beamten von Guadalajara sie zwangen, die Augen zu schließen und ihre Hände zwischen die Beine zu klemmen, und ihr dann etwas in den Nacken drückten, von dem sie nicht wusste, was es war. »Im ersten Moment denkst du noch nicht an deine Familie, sondern daran zu sterben«, erinnert sie sich. »Aber dann hoffst du, dass deine Familie deinen Körper schnell findet und dass sie nicht noch nach 20 Jahren danach sucht, wie es bei Rosario Ibarra der Fall ist, deren Sohn von den Militärs verhaftet wurde und der seither verschwunden ist.«