Ins Schwimmen geraten

Eine neue Disziplin greift im deutschen Sport um sich: das postolympische Hauen und Stechen. Den Anfang machen die Schwimmer. von martin krauss

Die Kappen, die für die deutsche Schwimmnationalmannschaft bei den Olympischen Spielen in Athen angeliefert wurden, waren mit der belgischen Flagge bedruckt. So etwas geht natürlich nicht, wusste man im deutschen Team, warf den Plastikkram weg und orderte auf die Schnelle neue Badekappen.

Es kam, wie es mit nur mühsam auf national getrimmten Kappen kommen musste: Das sportliche Abschneiden von Almsick, Buschschulte oder Stockbauer war schlecht, die Bild-Zeitung schrieb davon, dass der Deutsche Schwimmverband (DSV) »Millionen versenkt« habe.

Eine Silber- und vier Bronzemedaillen sind die Bilanz der deutschen Schwimmer von Athen, und was sich in Bild noch liest, als käme es vom Bund deutscher Steuerzahler, wächst sich gerade zum großen Krach aus.

Hannah Stockbauer, die als amtierende dreifache Schwimm-Weltmeisterin in keinem einzigen Athener Einzelrennen einen Finalplatz erreichte, ist sauer. »Von irgendwelchen Funktionären, die keine Ahnung haben, was ich trainiert habe«, schimpfte die 22jährige, »muss ich mir nicht anhören, ich hätte keinen Biss.«

Im Bayerischen Fernsehen hatte Stockbauer vor allem den Cheftrainer Ralf Beckmann und den Teampsychologen Ulrich Kuhl angegriffen. »Beckmann zum Beispiel kommt vier Tage ins Trainingslager in die Sierra Nevada, und zwei Tage davon macht er Urlaub«, und über Kuhl sagt sie: »Der machte bloß Fotos.«

Während Ralf Beckmann aus dem Urlaub lediglich mitteilen lässt, dass er sich später öffentlich äußern wird, erhält Stockbauer Unterstützung von Thomas Rupprath, der wie sie als Medaillenhoffnung angereist war und ohne eine Einzelmedaille abfuhr. »Hannah hat recht«, steckte er der Bild. »Wir haben neben Beckmann mit Manfred Thiesmann noch einen Bundestrainer«, weiß Rupprath. »Aber es stellt sich doch die Frage: Warum kann diesen Job nicht einer allein machen?« Bei Stockbauer klingt das fast identisch: »Wir haben einen Teamchef und einen Bundestrainer. Da muss doch überlegt werden, ob das nicht einer allein machen kann.«

Bislang wird diese Kritik von weiteren Schwimmern nicht mitgetragen. Christian Keller, der Aktivensprecher des DSV, sieht es komplett anders. »Herr Beckmann steht außerhalb jeglicher Kritik, was die sportliche Leistung in Athen angeht«, lässt er aus seinem Urlaubsort in der Türkei wissen.

Der DSV und seine Trainer bereiten sich derweil akribisch auf die sportfachliche Auswertung der Olympischen Spiele vor, die Anfang Oktober in Warendorf erfolgen soll. Solche Trainertagungen nach Großereignissen sind üblich; dass sie aber so kurzfristig anberaumt werden, ist ungewöhnlich, denn die riesige Menge an Datenmaterial will ja gründlich ausgewertet werden. Das ist auch der Grund, warum vorab kein Zwischenergebnis zu erfahren ist. Als wenig hilfreich wird eine »gnadenlose Bild-Abrechnung mit dem DSV« erachtet. »Die chaotische Vorbereitung« wird da gerügt, bloß weil das letzte Trainingslager auf Mallorca und nicht bereits in Griechenland stattfand. Auch »die Trainings-Stümperei« wird bemängelt, denn: »Serienweise erklärten die Deutschen ihr Versagen mit Schlappheit.«

»Die Faselei vom ›Morgens bin ich immer schlapp‹ oder ›Ich kann das Wasser nicht fassen‹« mag Michael Gross nicht mehr hören. Der mehrfache Olympiasieger in den achtziger Jahren sieht strukturelle Gründe. »Deutschland ist Weltspitze im Jugend- und Juniorenbereich«, schreibt er in der FAZ. »Aber die Abbrecherquote ist extrem hoch, steigt derzeit sogar, da Schule und Ausbildung wichtiger sind. Ein Viertel weniger Abbrecher unter 18 Jahren würde jedoch bedeuten: doppelt so viele Medaillenkandidaten.« Gross äußert sich nicht nur zum schlechten Abschneiden der Schwimmer. Er hockt mittlerweile im Vorstand von Deutscher Sporthilfe und Nationalem Olympischen Komitee und sorgt sich um den gesamten Sport.

Schwimmpräsidentin Thiel wehrt sich heftig gegen Stockbauers und Ruppraths Kritik. »Wir dürfen, glaube ich, als Vorbild für so manchen anderen Verband gelten«, sagt sie der FAZ, »was die Verschlankung des Personals und die Straffung der Funktionen angeht.« Schließlich hatte der DSV unter ihrer Führung nach dem schlechten Abschneiden bei den Olympischen Spielen 2000 in Sydney kräftig bei den Bundestrainern aufgeräumt. Statt der bis dahin geltenden Aufteilung eines Männer-, eines Frauen- und zweier Nachwuchstrainer wurde der bis dahin für die Frauen zuständige Achim Jedamsky verantwortlich für den Nachwuchs, sein bisheriger Männer-Kollege Manfred Thiesmann kümmert sich um das bei Lehrgängen und kurz vor internationalen Großereignissen zu absolvierende Training der gesamten Nationalmannschaft, und der mit Ralf Beckmann besetzte neu geschaffene Posten des Cheftrainers ist für die Koordination und für die schwierigen Entscheidungen zuständig.

Der Dauerkrach mit den Vereinstrainern, mit denen die Schwimmer das ganze Jahr zusammenarbeiten und deren Betreuung sie gerade bei einem Ereignis wie den Olympischen Spielen nicht missen möchten, ist so entschärft. Zudem reisten etwa nach Athen acht Vereinstrainer an, die mit dem Status des Assistenzbundestrainers auch volle Akkreditierung für alle Wettkampf- und Trainingsstätten erhielten. Dieses neue Konzept erwies sich vor einem Jahr, bei den Weltmeisterschaften in Barcelona, noch als erfolgreich, aber in Athen gelang den deutschen Sportlern bekanntlich kaum etwas.

Das hat im deutschen Sport, nicht nur bei den Schwimmern, neue Debatten ausgelöst. Eine Fusion von Deutschem Sportbund (DSB) und Nationalem Olympischen Komitee (NOK) wird von vielen Seiten gefordert, etwa von NOK-Präsident Klaus Steinbach. Dabei war eine solche Fusion schon 1995/96 kläglich gescheitert. Der DSB, seit 1994 angeführt von dem konservativen Berliner Manfred Freiherr von Richthofen, ist der Zusammenschluss der Fachverbände wie etwa Fußballbund, Schwimmverband, Turnerbund etc. und der Landessportbünde. Letztgenannte stellten im westdeutschen Sportsystem das Erbe des nach 1945 kaum noch wiederbelebten Arbeitersports dar, während erstgenannte strukturell gar nicht und personell kaum verändert den bürgerlichen Sport fortschrieben. Das NOK hingegen hat sich auf solche postfaschistischen Kompromisse nie einlassen müssen: Es besteht aus den Fachverbänden und persönlichen Mitgliedern, die es sich aus seiner Reihe wählt. Es hat zwar im engeren Sinne nur die Aufgabe, sich um die olympischen Belange in Deutschland zu kümmern, aber da die Olympischen Spiele das wichtigste Sportweltereignis darstellen, auf das die Sportler der meisten Disziplinen vier Jahre lang hintrainieren, hat es, auch wenn es nicht mal ansatzweise demokratisch legitimiert ist, einen enormen Einfluss auf die Sportpolitik.

»Der DSB ist die erfolgreichste Breitensportorganisation der Welt«, sagt Michael Gross, womit er auf elegante Weise dafür plädiert, dass sich der Dachverband nicht mehr um den Spitzensport kümmern sollte. Der wäre dann alleinige Aufgabe des NOK, das sich, damit es ein wenig effektiver zugeht, mit einem zentralen Sportinstitut und der Sporthilfe, die Gross zur »nationalen Sportstiftung« ausbauen möchte, verbünden würde.

Beim Schwimmverband sieht man solchen Bedarf nach Reformen nicht unbedingt. »Wenn wir nicht schon so viel in unsere Zukunft investieren würden«, sagt Christa Thiel, »dann wäre unsere Mannschaft bestimmt nicht gerade mit reichem Medaillensegen von den Jugendeuropameisterschaften heimgekehrt, als zweitbestes Team hinter den Russen.«

Ob die Nachwuchsarbeit wirklich so effektiv ist, wie von Thiel und auch Gross behauptet, ist freilich umstritten. »Ich frage mich, warum so viele Funktionäre mit nach Athen gereist sind«, schimpft etwa Thomas Rupprath, »dieses Geld könnte man doch wirklich besser einsetzen, zum Beispiel in der Jugendförderung oder für hauptamtliche Trainer.« Und Hannah Stockbauer sagt: »Wenn erzählt wird, wie viel Geld in jeder Medaille steckt, dann schauen wir doch mal, wo das Geld hinfließt. Anscheinend in die falschen Projekte.« Vielleicht wünscht sie sich ja belgische Badekappen.