Keine Sorgen mit die Deinen

Was Arno Schmidt zur Rechtschreibreform gesagt hätte. von jan süselbeck

Bei dem gegenwärtigen Rumor um die Rechtschreibung ist es beschämend und lächerlich, daß die Urheber, Befürworter und Gegner dieser Reform die Arbeiten Schmidts zur deutschen Sprache so vollständig übersehen«, echauffierte sich der Schriftsteller Christoph Hein 1997 im Tagesspiegel. Damals versuchte man gerade durchzusetzen, was heute so viele Kulturkonservative wieder rückgängig machen wollen: die neue deutsche Rechtschreibung.

Hein plädierte für ein reformiertes Deutsch nach den Maßgaben Schmidts, der über »das Handwerk des Schreibens, über Vorraussetzungen und notwendige Vorarbeiten (…) mit logischer und geradezu mathematischer Klarheit« seine Grundsätze entwickelt habe. »Eine Reform, die Schmidt durchaus nicht in allem folgt, aber doch seine überzeugendsten Leistungen berücksichtigt, wäre ein angemessenes Monument für diesen Ritter der Sprache. (…) Eine so wenig stringente, in sich widersprüchliche und halbherzig-zögerliche, eine so durchgängig inkonsequente Reform wie die jetzt vorgelegte hätte Schmidt sich nicht durchgehen lassen.« Heins Tirade gipfelte in dem Ausruf: »Um Schaden vom Deutschen Volk abzuwenden (…) sollten die Reformer (…) genötigt werden, Arno Schmidt zu lesen.«

Ob Schmidt, der 1956 an Alfred Andersch die lakonische Mitteilung schrieb: »The Germany kann me furchtbar leckn !!«, von einer solchen Instrumentalisierung seines Werks begeistert wäre, kann man ihn nicht mehr fragen. Er starb 1979. Schmidts Verbitterung über die Dummheit seiner Landsleute hatte ihn jedoch spätestens nach der westdeutschen Wiederbewaffnung 1954 dazu bewogen, sich lieber gleich ganz in die Welt der Literatur zurückzuziehen als noch auf irgendwelche politischen Schadensbegrenzungen zu hoffen.

Stattdessen empörte sich Schmidt in seinen ungefähr zeitgleich entstandenen »Berechnungen«, dem Schriftsteller Regeln für den Gebrauch der Interpunktion vorschreiben zu wollen, sei nichts als eine »unzulässige Einmischung seitens der Germanisten«. Vielmehr habe sich der Autor danach zu richten, »wie der Betreffende gesprochen hat! Ich gebe an, wie er die Pausen zögernd, überlegend, boshaft, setzte: nicht, wie Herr Duden, auch wenn er zehnmal Geheimrat war, es vorschreibt!« Tatsächlich war Schmidt gegen diesen Herrn Duden fortan »keine Invektive zu scharf«.

In »Dichtung und Dialekt« (1957) stellt er klar: »Man mache sich nämlich von dem Vorurteil frei, der ›Duden‹ sei die gußeiserne Form für alle vergangene und künftige deutsche Sprech= und Schreibweise: er ist vielmehr eine der verhängnisvollsten uns je angezogenen Uniformen! Wolfram von Eschenbach schrieb seinen Parzival ›zeitgemäß‹; ohne sich um einen ›Duden‹ zu scheren; und nicht minder Luther und Fischart; und auch wir Heutigen sollten nicht dahinter bleiben!« Schließlich gelte: »Den ›Finger am Puls der lebenden Sprache‹ haben nur die Schriftsteller, die phonetisch=präzis sowohl die Technik verfolgen; als auch das organisch=wachsende Sprachgemisch der oberschlesischen Kumpels im Ruhr= ›Kohlenpott‹: ›Hast Du Sorgen mit die Deinen?: / Trink Dich Einen!‹«

Zusätzlich entdeckte Schmidt die Psychoanalyse für sich. Er begann, latenten und manifesten sexuellen Bedeutungen der Sprache mehr Beachtung zu schenken. Angefeuert von seiner Joyce-Lektüre ignorierte er dabei die herkömmliche Rechtschreibung immer mehr. Schmidt unterschied zwischen der Sprache des »zensierten« Bewusstseins und der klaren Sprache des Unbewussten, den so genannten »Etyms«. Im Funk-Essay »Das Buch Jedermann. James Joyce zum 25. Todestage« (1965) doziert der Sprecher A: »Sie können es sich, vielleicht noch anschaulicher, nach ›Stockwerken‹ vorstellen: ganz ›oben‹, das Bewußtsein, bedient sich der Worte; besteht auch, womöglich im halben Gefühl seiner mühsam ausbalancierten, prekären Verletzlichkeit, auf stricter Orthografie à la Duden. Der Persönlichkeitsanteil darunter – zur Hälfte durchaus bewusstseinsfähig; zur Hälfte im Unbewussten wuchernd – ›spricht Etyms‹.«

Der Roman »Kaff auch Mare Crisium« (1960) ist ein Manifest Schmidtscher Emanzipation von den Reglementierungen deutscher Orthografie. Der Autor erläutert, es gehe ihm hier um »eine skurrile Auflockerung des leserischen Denkens=Fühlens«. »Die fonetisch=geschriebene ›Schprech= Schprache‹ ist absichtlich un=einheitlich gehalten (…). Wodurch nicht nur sichtbar wird: wie sehr etwa unsere ›Duden‹= Schrift (…) nach Freiheit des Schreibenden geradezu schreit; sondern auch zahlreiche Assoziationen sichtbar gemacht werden.«

Dazu nutzte Schmidt »auch das – bei uns, in der Bundesrepublik, fast allzu geläufige Englische«, um es in den Dienst einer »solch ›verfremdenden Un=Recht=Schreibung‹« zu stellen. »Ich erinnere nur an ›Kriemhild= Cream hilled‹; oder die prachtvolle sprachliche ›Parallelstraß#e‹ vom ›Kalten Krieg = Calton Creek‹.« Dies führte dann in letzter Instanz zu Kalauern wie demjenigen im Riesen-Typoskript »Zettel’s Traum« (1970), wonach man den Namen »Aristoteles« bloß englich – nämlich »Aries + tottle« – auszusprechen habe, um endlich zu erkennen, dass sich darin ein »arse total« verberge.

Schmidt vermittelte »die Einsicht, daß Freiheit & Richtigkeit der Sprache nicht durch Vereinfachung der Orthografie erreicht werden; sondern durch Freigabe der Rechtschreibung: verfeinern müßte man sie; nicht vergröbern, durch Duden’sche Gesetzestafeln.« Dies schloss für ihn auch die möglichst getreue Wiedergabe ländlicher Dialekte mit ein. Allerdings mit der 1956 in den »Berechnungen III« formulierten Einschränkung: »Nie werde ich dem zeitlich oder lokal begränzten Slang bzw. Dialekt das Wort reden.«

Kulturpessimistische Heimattümelei war seine Sache also nicht. Selbst noch im Krieg aus Schlesien geflüchtet, war ihm die reaktionäre Betrauerung »verlorener Sprachen« ein Graus. Vielmehr ging es Schmidt darum, den unaufhaltsamen Prozess sprachlicher Evolution endlich selbst mittels ordnender Beschreibung in die Hand zu nehmen: »Die herrlich=exakte Abbildung auch unserer akustischen Realität: gegen die Herren, die immer stolz ihre linguistischen Zirbeldrüsen und Blinddärme vorweisen müssen, damit man ja nicht übersehe, daß sie vom lieben Vieh abstammen!« Dagegen postulierte der selbsternannte »Wortmetz« stolz: »Ich bin also nichts weniger als ein ›Revolutionär‹; wohl aber sind ›Die Anderen‹ um Jahrhunderte zurück!«

An Selbstbewusstsein mangelte es Schmidt also nicht. Der Bielefelder Literaturprofessor Jörg Drews, der in den sechziger Jahren öfters die Ehre hatte, den abgeschotteten »Außenseiter« im ländlichen Bargfeld besuchen zu dürfen, kann ein Lied davon singen. So erinnert er sich an eine gemeinsame Spazierfahrt in seinem altem VW: Man sei über die Sandwege der Heide gefahren und habe sich lebhaft unterhalten, »wobei ich für einen Moment die Hände vom Steuer nahm. Gefährlich war das gar nicht, weil die Spurrinnen so tief waren, daß der Wagen nicht vom Weg abkommen konnte; Schmidt aber befahl: ›Halten Sie an!‹ Ich dachte: Au weh!, und hielt an, und Schmidt sagte strafend, pompös und so übertrieben wie komisch: ›Nehmen Sie die Hände ans Lenkrad! Sie halten das Schicksal der deutschen Literatur in ihren Händen.‹«

Derartig clowneske Auftritte sollten skeptisch stimmen. Denn bei allem Aplomb, mit dem Schmidt seine Sprachtheorien vortrug, ist nicht zu übersehen, dass sich dahinter die Scharlatanerie des selbsternannten »Klarglas-Witzboldes« verbarg. Schmidt war ein guter Schauspieler, und sein Umgang mit der deutschen Sprache war schlicht der befreienden Experimentierens. Sein unnötiger Versuch jedoch, dieser »nachgeholten Moderne« eine nachträglich angemaßte Ordnung überzustülpen, misslang.

Schmidt tat bloß so, als seien seine geometrischen und buchhalterisch nach Paragrafen strukturierten Berechnungen in der Lage, eine rigide durchgeplante, neue Literatur zu begründen, die er im Spätwerk bis an die »Grenzen der Sprache« zu führen gedachte. Es ist nicht zu übersehen, dass er sich dabei in alle möglichen Inkonsequenzen und Widersprüche verstrickte. Schon ein kursorischer Blick auf eine beliebige Seite von »Zettel’s Traum« genügt, um auf Anhieb eine handvoll orthografischer Unstimmigkeiten zu entdecken, die eher als unbeabsichtigte Fehler denn linguistische Innovationen eines allmächtigen literarischen Praeceptor Germaniae zu klassifizieren sein dürften.

Schmidts gerne geäußerte Behauptung, alle möglichen internationalen Wörterbücher und Lexika mittels seines vielzitierten gusseisernen Gedächtnisses auswendig gelernt zu haben, um sie in seinen Büchern ganz neu zusammenzudenken, glauben heute höchstens noch durchgeknallte Fans. Heins emphatische Berufung auf Schmidts angebliche theoretische und poetologische Exaktheit wurde zumindest von der Schmidt-Forschung längst ad acta gelegt.

»Was für ein Durcheinander…«, stöhnte die Germanistin Maike Bartl, nachdem sie versucht hatte, Schmidts Berechnungen logisch nachzuvollziehen. Was bleibt, ist der literarische Esprit eines mutigen Sprach-Spielers. Und nicht zuletzt: sein Humor.