Streetwork und Revolution

Im Nordosten Brooklyns kämpft eine junge Organisation gegen Ausbeutung und für bessere Lebensbedingungen. von jakob weingartner

Schwer zu sagen, ob der Kleine mitbekommt, was um ihn herum passiert. Aber er spürt die aufgeladene Stimmung, die die DemonstrantInnen von »Make the Road by Walking« im Raum verbreiten. Der Junge blinzelt nach oben, wo ein brachiales Deckengemälde die blutige Geschichte der Vereinigten Staaten abbildet. Muskelbepackte, weiße Siedler schwingen sich zusammen mit Soldaten über Wälle und Schützengräben, um die Freiheit ihrer Nation gegen indianische Tomahawks zu verteidigen.

Seine Mutter Yorelis zerrt den 10jährigen Jungen immer wieder nach vorn, während sie einen ernst dreinblickenden Mann davon zu überzeugen versucht, dass die Kürzung der Sozialhilfe für New Yorks arme Familien die Pflege ihres unter dem Down-Syndrom leidenden Adoptivkindes unmöglich machen würde. Als alleinerziehende Mutter mit drei Kindern kämpfe sie jetzt schon jede Woche hart, um Geld für die steigende Miete und das Essen heranzuschaffen. Ihrem Gegenüber ist die Konfrontation offensichtlich unangenehm, und der Mann verspricht, ihren Fall unmittelbar an den Gouverneur George Pataki weiterzuleiten. Doch das genügt Yorelis nicht: »Nein, ich will sofort mit Pataki selbst sprechen, er muss wissen, was bei uns unten vor sich geht, dann wird er auch aufhören, uns Geld wegzunehmen.«

Als dessen Assistent ungeschickt zu erklären versucht, dass seinem Chef die Entscheidung über die Kürzung bestimmt sehr schwer gefallen sei, geht ein Raunen durch die Protestierenden ringsum. »Der arme Kerl, dann muss ihm das Stadion ja den Schlaf rauben!« ruft jemand von hinten auf Spanisch, woraufhin großes Gelächter durch den Saal geht. Dem überforderten Repräsentanten gehen endgültig die demokratischen Beschwörungsformeln aus. Der Gouverneur hatte vor einiger Zeit bekannt gegeben, an der Upper West Side zur Vorbereitung auf die Olympiade das teuerste Stadion der USA bauen zu wollen; große Teile des geplanten Baus werden vom Staat New York finanziert. Gleichzeitig liegt dem Senat ein vom Gouverneur unterstützter Gesetzesantrag vor, der vorsieht, die Familiensozialhilfe beträchtlich zu kürzen, um die von der Regierung geleerten Staatskassen zu füllen.

Zu einer Zeit, in der die soziale Kluft zwischen Arm und Reich in New Yorks segregierten Inner Cities durch Gentrifizierung, Arbeitslosigkeit und steigende Lebenskosten immer größer wird, treibt solch eine radikale Umverteilungspolitik immer mehr Menschen in die Obdachlosigkeit. Die Stadt hat vor kurzem bekannt gegeben, dass sich im Jahr 2003 bereits 35 000 Menschen in Obdachlosenheimen befanden, davon waren zwei Drittel Familien mit Kindern. Und seit Bürgermeister Michael Bloomberg die von seinem Vorgänger Rudolph Giuliani forcierte Vertreibung der Obdachlosen durch die Polizei aus den besseren Vierteln der Stadt abgeschwächt hat, brechen die Schnorrer wieder täglich in die Wohlstandswelt ein.

Nachdem einige weitere Mütter ihre Beschwerden bei George Patakis Mitarbeitern abgeliefert haben, zieht der Protestzug, radikale Parolen skandierend, weiter durch die bundesstaatlichen Administrationsgebäude: »Pataki, se fuera, el pueblo esta en guerra!« hallt es von Marmortafeln und Betonsäulen zurück. Als Yorelis einen letzten Blick auf ein Detail des überladenen Deckengemäldes wirft, auf dem ein stiernackiger Siedler mit einem edlen Wilden ringt, verkündet sie wütend: »Dort oben, bei den anderen Indigenen, dort werden wir auch einmal enden.«

Die meisten, die den weiten Weg nach Albany, dem Sitz der Regierung des Staates New York, auf sich genommen haben, sind ImmigrantInnen der ersten und zweiten Generation aus Puerto Rico, Mexiko und aus anderen südamerikanischen Staaten. Sie müssen derzeit erleben, wie sich in ihrem Viertel, dem im nordöstlichen Brooklyn gelegenen Bushwick, der tiefgreifende Prozess der Gentrifizierung vollzieht. Das Prinzip lässt sich auf folgende Formel bringen: Ein verarmter, proletarischer und meist migrantischer Stadtteil, in den nicht mehr investiert wurde, erfährt einen Zufluss von Kapital; das führt dazu, dass zwar die Häuser und Straßen verschönert werden, die Mieten jedoch in die Höhe getrieben werden. In der Folge müsssen die langjährigen Mieter ausziehen. Bessergestellte, meist weiße Angestellte der boomenden, globalisierten high-level service economy verdrängen mit ihrer Suche nach mehr Platz, billigen Mieten und Authentizität viele der im industriellen Sektor oder der low-level service economy beschäftigte MigrantInnen an die Ränder von New York. Verfügen letztgenannte nicht über genügend Einkommen oder staatlich gesicherte Mietverträge, werden sie zu Opfern des Prozesses, der seit nunmehr 30 Jahren von money-makin’ Manhattan aus die urbane Struktur New Yorks in eine postfordistische Hochleistungsmaschine verwandelt. Kein Wunder, dass sich alteingesessene BushwickerInnen wie Yorelis vor der in ihr Viertel drängenden Gentrifizierung fürchten; oft ziehen sie Parallelen zur Eroberung Nordamerikas durch die weißen Siedler.

Seit mehr als acht Jahren kämpft »Make the Road by Walking« um bessere Lebensbedingungen für die Bewohner von Bushwick. Kein Zweifel, das Viertel ist eine ökonomisch extrem angreifbare Gegend von Brooklyn. Die offizielle Arbeitslosenrate liegt hier deutlich über 20 Prozent, die Arbeitssituation ist hart: Anstatt von working class wird nurmehr von working poor gesprochen. Mehr als zwei Drittel der Einwohner sind lateinamerikanischer Herkunft, ein Viertel ist afroamerikanisch. Der Anteil derer, die unter der Armutsgrenze leben, liegt bei mehr als 40 Prozent; drei Viertel der Neugeborenen wachsen in Armut auf.

Hunderte Mitglieder von »Make the Road« kommen wöchentlich in die Zentrale im Herzen eines der ärmsten und segregiertesten Viertel New Yorks. Andrew Friedman, Absolvent der Lawschool der New York University und Mitbegründer der Organisation, erklärt: »Wir versuchen hier, aus der täglichen Beratungs- und Organisationsarbeit eine Bewegung zu katalysieren, welche die Wurzeln der sozialen Probleme, denen wir täglich ausgesetzt sind, kollektiv angreift. Deswegen sind fast alle unsere Mitarbeiter Leute, die irgendwann herkamen, weil ihr Vermieter sie ausgebeutet hat oder ihnen die Sozialhilfe gestrichen wurde. Man könnte also sagen, wir sind alle revolutionäre StraßenarbeiterInnen.«

In diesem Sinne kritisiert Friedman auch viele der zivilgesellschaftlichen Organisationen New Yorks, die die Arbeiten übernehmen, die eigentlich die Stadtverwaltung leisten sollte, und die somit zu Handlangern in der Verwaltung der Armut werden. »Unsere Mitglieder wollten immer schon einen direkteren Kampf, sie kommen aus der ärmsten Gegend einer der reichsten Städte der Welt und wissen ganz genau Bescheid über kapitalistische Unterdrückung, wir brauchen nurmehr die Logistik zu übernehmen.«

»Make the Road« kann in seiner kurzen Geschichte bereits einige Erfolge verzeichnen. Der größte war wahrscheinlich das erfolgreiche Lobbying des Environmental Justice Project für eine strengere Auflage zu der in Bushwick vielfach verwendeten toxischen Bleifarbe, die in dem Viertel in einer der höchsten Konzentrationen von New York vorkommt. Insbesondere bei Kleinkindern kann dies zu schrecklichen Krankheiten führen. »Environmental Racism« wird das hier genannt. Außerdem setzte das Economic Justice and Democracy Project gemeinsam mit anderen fortschrittlichen Gruppen ein neues Gesetz durch, welches es über 100 000 migrantischen New YorkerInnen ermöglicht, Sozialhilfe in mehreren Sprachen zu beantragen. Das Youth Power Project kämpft gegen die Ausweitung des Gefängnissystems und nutzt HipHop als Medium, um junge Leute zu politisieren und zu mobilisieren. Außerdem trifft sich bei »Make the Road« wöchentlich Globe Gays and Lesbians of Bushwick Empowered, um den einzig sicheren Platz in Bushwick für ihre Mitglieder zu schaffen. In einer extrem katholischen Umgebung wie hier ist das ein wichtiger Bestandteil progressiver Gemeindearbeit; zur Diva-Extravaganzyparty, die vor kurzem stattfand, kamen dann auch mehr als 600 BesucherInnen.

Seit ungefähr zwei Jahren hat der Schatten der Gentrifizierung die verschiedenen Projekte der Initiative erfasst. Manuel Castro vom Environmental Justice Project meint: »Unser Kampf um bessere Wohnbedingungen hat durch den Zuzug von wohlhabenden Leuten eine neue Dimension erhalten. Hauseigentümer, die ihre Wohnungen bisher verfallen ließen und mit denen wir uns um jeden Rohrbruch stritten, entdecken jetzt plötzlich, dass sie viel Geld machen können, und beginnen damit, zu renovieren, die Mieten zu erhöhen und die ärmeren Mieter rauszuschmeißen.«

Um dem entgegenzusteuern, berät Castro beispielsweise MieterInnen, die gegen gesetzwidrige Mieterhöhungen klagen. Aber er meint auch: »Uns ist klar, dass wir damit die Gentrifizierung höchstens verlangsamen können, das Problem liegt viel tiefer im System begraben und den Weg dorthin müssen wir erst erschließen.«